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Unbefugtes Betreten

Unbefugtes Betreten

Titel: Unbefugtes Betreten
Autoren: Julian Barnes
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bringen sie keine Konzentration für etwas Ernsthafteres auf; aber es gibt noch einen anderen Grund. Sie müssen sich, ob bewusst oder unbewusst, mit etwas beschäftigen, bei dem es Regeln, Gesetze, Antworten und eine Gesamtlösung gibt, etwas, was sich in Ordnung bringen lässt. Natürlich hat eine Krankheit auch ihre Gesetze und Regeln und manchmal ihre Antworten, aber so erlebt man das am Krankenbett nicht. Und dann ist da noch die Unbarmherzigkeit der Hoffnung. Selbst wenn es keine Hoffnung auf Heilung mehr gibt, bleibt noch Hoffnung auf anderes – manches davon greifbar, anderes nicht. Hoffnung bedeutet Unsicherheit, und die bleibt bestehen, auch wenn man gesagt bekommt, dass es nur eine Antwort, eine Gewissheit gibt – die eine, unannehmbare.
    Ich löste keine Kreuzworträtsel und legte auch keine Puzzles – ich habe nicht den Kopf oder nicht die Gedulddazu. Aber ich betrieb mein Trainingsprogramm mit größerer Besessenheit. Ich stemmte mehr Gewichte und blieb länger auf dem Stepper. Freitags beim Joggen war ich plötzlich vorneweg, bei der harten Truppe, wo nicht geplaudert wird. Das war mir nur recht. Ich trug meinen Pulsmesser, achtete auf die Werte, schaute auf die Uhr, und manchmal redete ich davon, wie viele Kalorien ich verbrannt hatte. Am Ende war ich besser in Form als je zuvor. Und manchmal kam es mir vor – auch wenn sich das verrückt anhört –, als würde ich damit etwas lösen.
    Ich fand einen Untermieter für meine Wohnung und zog wieder bei meinen Eltern ein. Ich wusste, Mum würde Widerspruch einlegen – um meinetwillen, nicht um ihretwillen –, darum stellte ich sie vor vollendete Tatsachen. Dad nahm sich in der Kanzlei Urlaub; ich sagte alles ab, was nicht unmittelbar zum Unterricht gehörte; wir zogen Freunde und später Krankenschwestern hinzu. Im Haus wurden Handläufe und später Rollstuhlrampen angebracht. Mum zog ins Erdgeschoss; Dad ließ sie keine Nacht allein, bis sie dann ins Hospiz kam. Ich habe das als eine Zeit absoluter Panik in Erinnerung, aber auch als eine Zeit mit einer rigorosen alltäglichen Logik. Man folgte der Logik, und das sorgte anscheinend dafür, dass die Panik nicht überhandnahm.
    Mum hielt sich erstaunlich gut. Ich weiß, dass ALS – Kranke statistisch weniger zu Depressionen über ihren Zustand neigen als Patienten mit anderen degenerativen Erkrankungen, aber trotzdem. Sie tat nicht tapferer, als sie war; sie scheute sich nicht, vor uns zu weinen; sie machte keine Scherze, um uns aufzuheitern. Sie nahm das, was mit ihr geschah, nüchtern hin, ohne die Augen davor zu verschließen oder sich davon überwältigen zu lassen – von diesemGeschehen, das nacheinander alle ihre Sinne zerstören würde. Sie sorgte dafür, dass sie – und wir – weiterleben konnten. Von Janice sprach sie nie und sagte auch nicht, sie hoffe, eines Tages würde ich ihr Enkel schenken. Sie bürdete uns nichts auf und nahm uns keine Versprechungen für die Zeit danach ab. Es gab eine Phase, in der sie zusehends schwächer wurde und jeder Atemzug wie ein Marsch auf den Mount Everest klang; da fragte ich mich, ob sie an diesen Ort in der Schweiz dachte, wo man dem Ganzen ein würdiges Ende setzen kann. Aber ich wies den Gedanken bald wieder von mir: Diese Scherereien würde sie uns nicht zumuten wollen. Das war wieder ein Zeichen, dass sie – soweit es ihr möglich war – ihr Sterben selbst in der Hand hatte. Sie hatte sich um ein Hospiz gekümmert und uns erklärt, je eher sie dort einziehe, desto besser, weil nie abzusehen sei, wann ein Platz frei werde.
    Je größer etwas ist, desto weniger gibt es dazu zu sagen. Nicht zu fühlen , aber zu sagen. Weil es nur die Tatsache selbst gibt und die eigenen Gefühle zu dieser Tatsache. Sonst nichts. Als mein Vater sich mit seiner Anosmie auseinandersetzen musste, konnte er Gründe finden, warum dieser Nachteil, vom richtigen Standpunkt aus betrachtet, auch ein Vorteil sein konnte. Mums Krankheit aber fiel in eine ganz andere Kategorie, die weit über rationale Betrachtungsweisen hinausging; sie war etwas Ungeheuerliches, das keine Sprache hatte und vor dem jede Sprache versagte. Es gab kein Argument dagegen. Es ging auch nicht darum, dass man nicht die rechten Worte fand. Die Worte sind immer da – und es sind immer dieselben Worte, einfache Worte. Mum stirbt, aber Dad verliert sie. Ich habe das immer mit einem »aber« in der Mitte gesagt, nie mit einem »und«.
    Zumeiner Überraschung bekam ich einen Anruf von Janice.
    »Es tut
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