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Unbefugtes Betreten

Unbefugtes Betreten

Titel: Unbefugtes Betreten
Autoren: Julian Barnes
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gesagt, er wolle sich ein bisschen hinlegen und ...
    »Mach dir keine Sorgen, Mum, ich bin gleich da. Zehn, fünfzehn Minuten.« Ich hatte sowieso nichts anderes zu tun. Doch noch ehe ich auflegen konnte, schrie Janice, die meinenTeil des Gesprächs mit angehört hatte, zu mir rüber:
    »Wieso kann sie nicht den AA oder RAC anrufen, verdammt noch mal?«
    Das hatte Mum ganz sicher gehört, und Janice hatte das ganz sicher beabsichtigt.
    Ich legte den Hörer auf. »Du kannst mitkommen«, sagte ich zu ihr. »Und dich unters Auto legen, während ich es hochkurbele.« Als ich die Autoschlüssel holte, dachte ich bei mir: Okay, das war’s.
    Die meisten Leute fallen ihrem Arzt nicht gern zur Last. Aber die meisten Leute sind auch nicht gern krank. Und die meisten Leute wollen sich nicht dem, wenn auch nur stillschweigenden, Vorwurf aussetzen, sie hätten dem Arzt die Zeit gestohlen. Theoretisch kann man bei einem Arztbesuch also nur gewinnen: Entweder hat man am Ende die Bestätigung, dass man gesund ist, oder man hat dem Arzt tatsächlich nicht die Zeit gestohlen. Mein Vater hatte, wie seine Tomografie ergab, eine chronische Sinusitis, gegen die ihm Antibiotika und dann weiteres Nasenspray verschrieben wurden; darüber hinaus bestand die Möglichkeit einer Operation. Bei meiner Mutter wurde nach Blutuntersuchungen, Elektromyografie, Kernspintomografie und anschließender Eliminierung verschiedener anderer Möglichkeiten eine amyotrophe Lateralsklerose festgestellt.
    »Du wirst dich um deinen Vater kümmern, ja?«
    »Aber natürlich, Mum«, antwortete ich, ohne zu wissen, ob sie das auf kurze oder auf lange Sicht meinte. Und vermutlich hatte sie zu Dad etwas Ähnliches über mich gesagt.
    Mein Vater sagte: »Schau dir Stephen Hawking an. Der hatdas seit vierzig Jahren.« Wahrscheinlich war er auf derselben Website gewesen wie ich; da hätte er dann auch erfahren, dass fünfzig Prozent der ALS – Kranken innerhalb von vierzehn Monaten sterben.
    Dad regte sich darüber auf, wie man im Krankenhaus mit ihnen umgegangen war. Kaum hatte der Spezialist ihnen den Befund erläutert, wurden Mum und Dad nach unten in einen Lagerraum geführt, wo man ihnen die Rollstühle zeigte und was sonst noch bei der zwangsläufigen Verschlechterung von Mums Zustand nötig werden würde. Dad sagte, das sei wie eine Führung durch eine Folterkammer gewesen. Er war furchtbar aufgebracht, vor allem Mums wegen, glaube ich. Sie habe das alles ruhig hingenommen, sagte er. Allerdings arbeitete sie auch schon fünfzehn Jahre in diesem Krankenhaus und wusste, was da alles stand.
    Es fiel mir schwer, mit Dad darüber zu reden, was hier vor sich ging – und ihm umgekehrt auch. Ich dachte ständig: Mum stirbt, aber Dad verliert sie. Ich hatte das Gefühl, wenn ich diesen Satz oft genug wiederhole, bekommt er einen Sinn. Oder er sorgt dafür, dass es nicht passiert. Oder sonst was. Außerdem dachte ich: Wir wenden uns immer an Mum, wenn etwas ist; an wen sollen wir uns dann wenden, wenn etwas mit ihr ist? In der Zwischenzeit – während wir auf die Antworten warteten – sprach ich mit Dad über ihre täglichen Bedürfnisse: Wer sich um sie kümmerte, wie sie aufgelegt war, was sie gesagt hatte, und die Frage der medikamentösen Behandlung (oder vielmehr das Fehlen derselben, und ob wir auf Riluzol bestehen sollten). Über dergleichen konnten wir endlos reden und taten das auch. Doch die Katastrophe selbst – ihre Plötzlichkeit, ob wir sie hätten kommen sehen können, wie viel Mum uns verheimlicht hatte, die Prognose, das unvermeidliche Ergebnis –, darüber konnten wir nur ab und zu in Andeutungen sprechen. Vielleicht waren wir einfach zu erschöpft. Wir mussten über normale englische Angelegenheiten reden, zum Beispiel die mutmaßlichen Auswirkungen der geplanten Umgehungsstraße auf die Geschäfte in der Stadt. Oder ich fragte Dad nach seiner Anosmie, und wir taten beide, als wäre das noch ein interessantes Thema. Zuerst hatten die Antibiotika gewirkt, und die Gerüche brachen nur so über ihn herein; doch bald – nach etwa drei Tagen – hatte die Wirkung wieder nachgelassen. Wie es seine Art war, hatte Dad mir damals nichts davon erzählt; er behauptete, im Vergleich zu dem, was mit Mum passierte, sei es ihm wie ein unbedeutender Scherz erschienen.
    Irgendwo habe ich gelesen, dass Freunde und Angehörige eines Schwerkranken oft anfangen, Kreuzworträtsel zu lösen oder Puzzles zu legen, wenn sie nicht gerade im Krankenhaus sind. Zum einen
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