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Unbefugtes Betreten

Unbefugtes Betreten

Titel: Unbefugtes Betreten
Autoren: Julian Barnes
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am meisten hänge, wurden alle vor meiner Geburt aufgenommen. Und – vielen Dank auch, Janice – ich glaube wirklich, ich weiß, wie sie damals waren.
    Meine Eltern sitzen irgendwo an einem kiesigen Strand, Dad hat Mum den Arm um die Schultern gelegt; er trägt ein Sportsakko mit Lederflecken am Ellbogen, sie hat ein gepunktetes Kleid an und schaut voll inbrünstiger Hoffnung in die Kamera. Meine Eltern in ihren Flitterwochen in Spanien, hinter ihnen sind Berge, beide haben eine Sonnenbrille auf, sodass man ihre Gefühle aus ihrer Körperhaltung erschließen muss, daraus, wie offenkundig entspannt sie miteinander sind, und aus der verstohlenen Tatsache,dass meine Mutter die Hand in die Hosentasche meines Vaters geschoben hat. Und dann ein Bild, das ihnen trotz seiner Mängel bestimmt viel bedeutet hat: beide zusammen auf einer Party, erkennbar mehr als ein bisschen betrunken, und vom Blitzlicht der Kamera haben sie rosa Augen wie weiße Mäuse. Mein Vater hat einen grotesken Backenbart, Mum hat krause Haare, große Ohrringe und trägt einen Kaftan. Beide sehen nicht so aus, als könnten sie je erwachsen genug werden, um Eltern zu sein. Ich nehme an, dies ist das allererste gemeinsame Bild von ihnen, der erste offizielle Beleg, dass sie sich im selben Raum bewegen, dieselbe Luft atmen.
    Auf der Anrichte steht auch ein Foto von mir mit meinen Eltern. Ich bin vier oder fünf Jahre alt und stehe zwischen ihnen mit der Miene eines Kindes, dem man gesagt hat, es solle auf das Vögelchen achten, oder wie immer sie sich ausgedrückt haben: konzentriert, aber zugleich nicht ganz sicher, was da vor sich geht. Ich halte eine Kindergießkanne in der Hand, obwohl ich mich nicht erinnern kann, dass ich je Spielzeug-Gartengeräte bekommen oder überhaupt Interesse, echtes oder eingeredetes, an Gartenarbeit gezeigt hätte.
    Wenn ich heute dieses Foto betrachte – meine Mutter, die fürsorglich auf mich herabschaut, meinen Vater, der in die Kamera lächelt, in der einen Hand einen Drink und in der anderen eine Zigarette –, muss ich unwillkürlich daran denken, was Janice zu mir gesagt hat. Dass Eltern entscheiden, wer sie sein wollen, ehe das Kind sich dessen bewusst ist, dass sie sich eine Fassade zulegen, die das Kind nie durchschauen kann. Ihre Bemerkungen hatten, ob beabsichtigt oder nicht, etwas Gehässiges an sich. »Du willst ihn einfach nur als einen Vater sehen. Niemand ist einfach nur ein Vater, nur eine Mutter.« Und dann: »Womöglich gibtes im Leben deiner Mutter ein Geheimnis, von dem du überhaupt nichts ahnst.« Was soll ich mit diesem Gedanken anfangen? Selbst wenn ich ihn weiter verfolge und feststelle, dass er nirgendwohin führt?
    Meine Mum ist kein bisschen überdreht oder flippig und macht niemals – bitte beachten, Janice –, niemals ein neurotisches Drama um ihre Person. Sie ist eine gediegene Gestalt in einem Raum, ob sie nun etwas sagt oder nicht. Und sie ist der Mensch, an den man sich wenden würde, wenn irgendwas ist. Als ich noch klein war, hatte sie sich einmal so verletzt, dass sie eine klaffende Wunde am Oberschenkel hatte. Außer ihr war niemand zu Hause. Die meisten Leute hätten einen Krankenwagen gerufen oder zumindest Dad bei der Arbeit gestört. Mum aber nahm einfach eine Nadel und chirurgischen Faden, zog die Wunde zusammen und nähte sie zu. Und sie würde, ohne mit der Wimper zu zucken, für jeden anderen dasselbe tun. So ist sie eben. Falls es tatsächlich ein Geheimnis in ihrem Leben gibt, dann hat sie vermutlich jemandem geholfen und nie ein Wort darüber verloren. Also kann Janice mir den Buckel runterrutschen, mehr sag ich dazu nicht.
    Meine Eltern lernten sich kennen, als Dad gerade seine Zulassung als Anwalt bekommen hatte. Er behauptete immer, er habe jede Menge Rivalen aus dem Feld schlagen müssen. Mum meinte, da sei nichts aus dem Feld zu schlagen gewesen, denn für sie sei die Sache vom ersten Tag an klar gewesen. Ja, erwiderte Dad, aber die anderen haben das nicht so gesehen. Dann schaute meine Mutter ihn liebevoll an, und ich wusste nie, wem von beiden ich glauben sollte. Vielleicht ist das die Definition einer glücklichen Ehe: Beide Seiten sagen die Wahrheit, auch wenn diese Darstellungen unvereinbar sind.
    Natürlichist meine Bewunderung für ihre Ehe auch durch das Scheitern meiner eigenen bedingt. Vielleicht hat ihr Beispiel mich dazu verleitet, meine Ehe für unkomplizierter zu halten, als sie in Wirklichkeit war. Glaubst du, manche Leute haben ein Talent zur Ehe,
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