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Unbefugtes Betreten

Unbefugtes Betreten

Titel: Unbefugtes Betreten
Autoren: Julian Barnes
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meisten Paare entwickeln mit der Zeit eine Art des Zusammenlebens, die im Grunde unehrlich ist. Die Beziehung basiert sozusagen auf einer beiderseitigen Übereinkunft zum Selbstbetrug. Das ist ihre Standardeinstellung.«
    »Tja, ich bin immer noch anderer Meinung.« In Wirklichkeitdachte ich: So ein Quatsch. Beiderseitige Übereinkunft zum Selbstbetrug – das ist überhaupt nicht dein Ton. Das ist eine Phrase, die du in der Zeitschrift aufgeschnappt hast, bei der du arbeitest. Oder von einem Kerl, den du ganz gern gefickt hättest. Aber ich sagte nur:
    »Willst du meine Eltern als Heuchler hinstellen?«
    »Ich rede ganz allgemein. Warum musst du immer alles persönlich nehmen?«
    »Dann verstehe ich nicht, was du sagen willst. Und wenn doch, dann begreife ich nicht, warum du mit mir oder sonst wem verheiratet sein möchtest.«
    »Soll mir recht sein.«
    Das war auch so was. Ich entwickelte allmählich eine Abneigung gegen ihren Gebrauch dieser Redensart.
    Dad gab zu, dass die Akupunktur schmerzhafter war als erwartet.
    »Sagst du das Mrs Rose?«
    »Aber sicher. Ich rufe ›aua‹.«
    Wenn Mrs Rose eine Nadel einstach und die erhoffte Reaktion ausblieb, stach sie gleich daneben noch einmal zu, bis sie bekam, was sie wollte.
    »Und was ist das?«
    »So was wie eine magnetische Anziehung, ein Energieschub. Und das merkt man immer, weil es dann am meisten wehtut.«
    »Und dann?«
    »Und dann macht sie das an anderen Stellen. Auf dem Handrücken, am Fußknöchel. Das tut noch mehr weh – weil da nicht viel Fleisch ist.«
    »Klar.«
    »Aber zwischendurch muss sie wissen, wie es mit deinem Energiefluss aussieht, darum fühlt sie immer wieder diePulse.«
    Da bin ich dann ausgerastet. »Ach, Herrgott noch mal, Dad. Es gibt nur einen Puls, das weißt du ganz gut. Definitionsgemäß. Es ist der Puls des Herzens, der Puls des Blutes.«
    Mein Vater sagte nichts, er räusperte sich nur leicht und sah meine Mutter an. In unserer Familie wird nicht gestritten. Wir wollen das nicht, und wir wissen auch gar nicht, wie es geht. Darum herrschte Schweigen, und dann sprach Mum über ein anderes Thema.
    Zwanzig Minuten nach seiner vierten Behandlung ging mein Vater in einen Starbucks und roch zum ersten Mal seit Monaten Kaffee. Dann wollte er im Body Shop ein Shampoo für Mum besorgen und sagte, es sei ihm vorgekommen, als wäre ihm ein Rhododendronstrauch auf den Kopf gefallen. Ihm sei fast übel geworden. Die Gerüche seien so intensiv gewesen, sagte er, dass er das Gefühl gehabt habe, sie gingen mit leuchtenden Farben einher.
    »Was sagst du dazu?«
    »Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Dad, ich kann dir nur gratulieren.« Ich dachte, vielleicht war das Zufall oder Autosuggestion.
    »Du willst mir doch nicht einreden, das sei nur Zufall gewesen?«
    »Nein, Dad, will ich nicht.«
    Zu seinem Erstaunen nahm Mrs Rose seinen Bericht gleichmütig entgegen, nickte leicht und kritzelte etwas in ein Notizbuch. Dann erläuterte sie ihm, wie sie weiter vorzugehen gedenke. Sie werde ihm, wenn er einverstanden sei, alle vierzehn Tage einen Termin geben und die Behandlung zum Sommer hin intensivieren – wobei sie nicht den britischen Sommer meinte, sondern den chinesischen, dennaufgrund seines Geburtsdatums werde mein Vater in der Zeit am besten auf die Therapie ansprechen. Dann sagte sie noch, sie stelle jedes Mal, wenn sie ihm die Pulse messe, eine Zunahme des Energieflusses fest.
    »Fühlst du dich energiegeladener, Dad?«
    »Darum geht es nicht.«
    »Und hast du seit deiner letzten Behandlung irgendwas gerochen?«
    »Nein.«
    Okay, der »Energiefluss« hatte also nichts mit dem »Maß an Energie« zu tun, und eine Zunahme hieß nicht, dass Dad besser riechen konnte. Wunderbar.
    Manchmal fragte ich mich, warum ich meinem Vater so hart zusetzte. In den nächsten drei Monaten erstattete er sachlich Bericht über seine Feststellungen. Ab und zu roch er etwas, aber es musste schon ein starker Geruch sein: Seife, Kaffee, verbrannter Toast, Toilettenreiniger; zweimal ein Glas Rotwein; einmal zu seiner Freude der Geruch von Regen. Der chinesische Sommer ging vorbei; Mrs Rose sagte, die Akupunktur könne nun nichts mehr ausrichten. Mein Vater machte, typischerweise, seine Skepsis dafür verantwortlich, aber Mrs Rose wiederholte, auf seine Geisteshaltung komme es nicht an. Da der Vorschlag zur Beendigung der Behandlung von Mrs Rose kam, hielt ich sie nicht mehr für einen Scharlatan. Aber vielleicht wollte ich auch Dad nicht als einen Menschen
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