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Uferwald

Titel: Uferwald
Autoren: Ulrich Ritzel
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Gefunden hat man den Autofahrer nie. Wahrscheinlich war er betrunken. Es war in der Neujahrsnacht, müssen Sie wissen, in der Neujahrsnacht vor sieben Jahren.«
     
    N ach dem Dienst war Kuttler noch ins Westbad gefahren und war zwanzig Runden – 1000 Meter – geschwommen, wobei er sorgfältig vermieden hatte, auf die Zeit zu achten. Jetzt stieg er, etwas müde, nicht ganz unzufrieden, die Treppe zu der Altbauwohnung hoch, die er vor einem Monat in der Neustadt bezogen hatte, einem Kleine-Leute-Viertel, das sich noch nicht entschieden hatte, ob es Slum oder Szene werden wollte.
    Er schloss auf, legte seine Lederjacke über eine Bücherkiste und schaltete die kleine Stehlampe ein, die neben seinem Feldbett stand. Kuttler war hier eingezogen, als er und Kerstin sich getrennt hatten, und in den Wochen danach hatte er sich vor allem um die Renovierung ihrer bisherigen gemeinsamen Wohnung kümmern müssen. Er war es ja auch gewesen, der sie verwohnt hatte, zumindest hatte Kerstin das gesagt.
    Im Bad hängte er sein Schwimmzeug auf, dabei stellte er zu seiner Verwunderung fest, dass die Plastiktüte mit dem als Materialien zur sozialistischen Literatur getarnten Tagebuch in seine Sporttasche geraten war. Das ging nun wirklich nicht, dass er sich Beweismaterial nach Hause mitnahm... Aber was hieß hier Beweismaterial? Die alte Frau war einfach gestorben, wahrscheinlich hatte sie nicht einmal nachgeholfen, ein Fremdverschulden, wie es im Polizeibericht heißt, war ausgeschlossen.
    Er ging in die Küche, deren Einrichtung er vom Vormieter hatte übernehmen können. Er war sogar froh darum gewesen, denn das Mobiliar ihrer früheren Wohnung war bei Kerstin verblieben, die es ja auch ausgesucht hatte, damals, als sie noch zusammen waren. Er verstaute drei der vier Flaschen Bier, die er sich in der Kneipe an der Ecke hatte geben lassen, im Kühlschrank, die vierte öffnete er und nahm einen kräftigen Zug, Schwimmen macht Durst. Zum Abendbrot hatte er noch etwas Käse und eine Dose Thunfisch, morgen würde er vielleicht etwas Frisches besorgen können. Schließlich ging er aus der Küche in das, was sein Wohnzimmer werden sollte, setzte sich in den Korbsessel, den er vor drei Wochen als Grundstock einer Einrichtung gekauft hatte, und schaltete den kleinen tragbaren Fernseher ein. Die Landesschau berichtete über das Wetter, das schlechter werden würde, über die Weinlese, die reichlich ausgefallen war, über einen Banküberfall in Ochsenhausen, wo zwei bewaffnete und maskierte Männer über 20000 Euro erbeutet hatten, und schließlich auch über die Verabschiedung des Innenministers, der seinen politischen Ruhestand als Vorstandschef einer landeseigenen Brauerei verbringen würde... Kuttler überlegte, ob das Land Baden-Württemberg ihm wohl dereinst eine Kneipe überlassen würde, er wäre ja schon mit einer schnuckeligen kleinen zufrieden.
    Das Programm, das danach kam, ödete ihn an, der einzige Film, der ihn hätte reizen können, wäre ein Western gewesen. Aber auf einem Kleinbildschirm kann man sich keinen Westernanschauen. Nicht, wenn man Western mag. Kuttler stand auf, griff sich die Sporttasche und holte das Buch aus der Wohnung der Toten. Auf halbem Weg zu seinem Sessel blieb er stehen. Was hatte er in diesem Tagebuch zu lesen? Es ging ihn nichts an. Es gab keinen dienstlichen Anlass, es zu tun.
    Er setzte sich, drehte den Schirm der Stehlampe zu sich herum und nahm das Buch aus dem Schutzumschlag. Es war in rotes Leinen gebunden und hatte ein merkwürdiges Format.
    Schließlich schlug er es auf.

Tilmans Tagebuch
Erster Teil
    Samstag, 17. Oktober
    Der Band stand in dem angestaubten Regal im Verschlag des Alten, zwischen trauernden Kakteen und Blechdosen mit Klebstoff.
    »Klein Oktav, quer«, sagte der Alte, »was willst’n damit? Gedichte schreiben, was?«
    Ich glaube, ich verzog mein Gesicht. Aber man soll die Leute nicht enttäuschen. Wenn er glaubt, dass der Studiker nach der Schicht in der Buchbinderei Gedichte schreibt, dann soll er das glauben. »Wenn Sie’s nicht weitererzählen.«
    Ein Buch also, alles zu schreiben, was ich will. Was will ich? Ein bisschen Spaß. Also will ich aufschreiben, was mir begegnet. Wenn es lustig ist. Was begegnet mir?
    Vorhin war Luzie da, schauen, wie es mir geht. Ist das lustig? Sie war mit Schleicher in den USA gewesen, erst in New York und dann mit dem Mietwagen quer durch den Westen, übernachtet haben sie in Motels, die Leute sind so freundlich, du machst dir keine
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