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Uferwald

Titel: Uferwald
Autoren: Ulrich Ritzel
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letzte Mal war es ein Junkie gewesen, in einem Austragshaus auf der Alb, schon drei Wochen tot, Tamar hatte Schere genommen und er dummerweise Papier. Also wird sie denken, dachte Kuttler, ich werde denken, dass sie das nicht schon wieder tun wird, also wird sie wieder Schere nehmen, und ich gewinne mit Stein...
    Aber Tamar hatte Papier genommen.
    »Ich hasse dich«, sagte Kuttler.
    »Es ist eine alte Frau«, teilte ihm Tamar mit. »Offenbar die getrocknete Variante. Also mach kein Gesicht.«
     
    C harlotte Gossler war 1936 geboren und hatte – nach dem Passfoto zu schließen – ein schmales Gesicht mit einer spitzen Nase gehabt. Als das Foto entstand, war sie noch nicht grau gewesen oder hatte sich das Haar tönen lassen, und trug eine Dauerwelle.
    Den Reisepass hatte Kuttler in dem Sekretär gefunden, der in dem kleinen Wohnzimmer mit der blauen Sesselgarnitur stand. Auch im Wohnzimmer waren die Läden vorgelegt. Der Sekretär war aus lackiertem hellem Holz, mit zierlichen Messingbeschlägenauf den einzelnen Fächern. In dem Fach mit dem Reisepass befanden sich außerdem Kontoauszüge, die bis zum April dieses Jahres datiert waren, die Rentenbescheide der letzten Jahre, ferner eine Urkunde der Industrie- und Handelskammer, mit der die Sekretärin Charlotte Gossler für ihre 30jährige Betriebszugehörigkeit geehrt wurde, und schließlich ein Vertrag mit einem Bestattungsunternehmer, an den eine Art Scheckkarte geheftet war.
    Kuttler zog ein zweites Fach auf, die Schublade ging ziemlich schwer und war bis obenhin mit Fotoalben voll gepackt. Er schlug eines davon auf, die Fotos zeigten fast ausnahmslos nur ein Motiv: einen jungen Mann mit schmalem, etwas spöttischem Gesicht, einmal auf dem Fahrrad, dann wieder bei einem Badeurlaub, lesend oder Schach spielend. Ein Foto schien im Spätherbst oder Winter aufgenommen worden zu sein, der junge Mann schob einen Rollstuhl mit einem kümmerlichen Menschen, der aus breiten Zahnlücken in die Kamera griente. Andere Aufnahmen zeigten ihn mit Gleichaltrigen, auch Mädchen darunter, aber im Vergleich zu ihnen allen wirkte er schmächtig und sah aus wie der Junge, der beim Völkerball als Letzter in die Mannschaft geholt wird.
    Kuttler legte das Album zurück und nahm ein zweites heraus, wieder der junge Mann, diesmal deutlich jünger, halb ein Kind, einmal in einem dunklen Konfirmationsanzug, mit einer weißen Nelke im Knopfloch. Auch dieses Album legte Kuttler zurück und wollte schon die Schublade schließen, als er plötzlich – ohne recht zu überlegen, warum – innehielt und den ganzen Stapel herausnahm.
    Ganz unten in der Schublade, in einer blau getönten Klarsichtfolie, lag eine Todesurkunde. Er nahm sie heraus, sie war ausgestellt auf Tilman Lukas Gossler, geboren am 5. Juni 1975, gestorben am 1. Januar 1999.
    Kuttler verzog das Gesicht. Er war selbst Jahrgang 1975, aber was hatte ihn das zu stören? Ihn beschäftigte etwas anderes. Der Hausmeister hatte die Leiche nicht etwa hier gefundenoder im Schlafzimmer, sondern im Zimmer nebenan. Es war das Zimmer eines jungen Mannes, vermutlich eines Studenten, für einen Augenblick hatte Kuttler gedacht, es könnte das Zimmer eines Untermieters sein, und das wäre ein doch etwas merkwürdiger Fundort gewesen. Aber jetzt sah das anders aus.
    Er erhob sich und ging in die Küche. In der Spüle stand eine Tasse mit einem angetrockneten Bodensatz, der Teebeutel lag noch auf der Untertasse. Es war ein Hagebuttentee gewesen, so stand es auf dem kleinen Papierschild am Ende des Fadens, der den Beutel hielt. Kein Teller, kein Besteck. Im Abfalleimer grünlich-weißer Schimmel, Kuttler zog einen Plastikhandschuh über die rechte Hand und durchsuchte den Abfall. Es waren keine Tablettenschachteln darunter, und so ging er ins Bad. In einem Fach des Toilettenschranks entdeckte er einen Nassrasierer und eine gebrauchte, völlig eingetrocknete Tube Rasiercreme. Ein anderes Fach hatte als Hausapotheke gedient; neben Venensalben, Korodintropfen zur Herzstärkung und gewöhnlichen Kopfschmerztabletten fand Kuttler darin ein Flakon mit Johanniskrautpastillen, dazu eines der stärkeren Schlafmittel und ein Antidepressivum. Alle Packungen waren angebrochen, aber nicht leer.
    Kuttler zuckte die Schultern. Kovacz würde schon herausfinden, woran die alte Dame gestorben war. Schlimmer war, dass er noch immer keine Adresse eines Angehörigen gefunden hatte. Widerstrebend ging er noch einmal in das Zimmer, in dem man die Leiche gefunden und vor
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