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Uferwald

Titel: Uferwald
Autoren: Ulrich Ritzel
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sie Personalrat Hundsecker anrufen und ihm den Brief vorlesen sollte, nur so, zur Tierquälerei. Doch dazu war jetzt keine Zeit. Vor einer halben Stunde hatte der Hausmeister, den sie in die Wohnanlage Michelsberg geschickt hatte, Bericht erstattet. Dass ein alter Mensch monatelang tot und vergessen in seiner Wohnung liegt, das mochte überall vorkommen. Aber dass ein Hinweis darauf wochenlang in der Verwaltung der Gemeinnützigen Heimstätten liegen blieb, war wieder etwas anderes.
    Luzie gab sich einen Ruck. Der eine Geschäftsführer war seit Monaten krank, der andere auf einer Tagung der Katholischen Akademie. So konnte sie gleich den Schmied anrufen, in diesem Fall den persönlichen Referenten des Oberbürgermeisters, der erst vor kurzem mit dem Slogan »Für eine menschliche Stadt« wiedergewählt worden war und der in einem seiner Nebenämter auch dem Aufsichtsrat der Gemeinnützigen Heimstätten vorsaß. Andreas Matthes meldete sich fast sofort.
    »Schleicher, da ist was blöd gelaufen«, sagte Luzie. »Dein Chef sollte vorgewarnt sein.«
    Matthes hörte schweigend zu, während Luzie berichtete, und unterm Reden sah sie ihn vor sich, wie er Notizen machte. Den Spitznamen »Schleicher« hatte er sich schon in seinen frühesten Schuljahren eingefangen und war ihn seitdem nicht mehr losgeworden.
    »Und wer ist die Tote?«, fragte er schließlich.
    »Das kommt erschwerend hinzu«, sagte Luzie. »Es ist eine Charlotte Gossler.«
    »Aber nicht...?«
    »Doch«, sagte Luzie. »Wir werden nicht umhin können, einen Kranz zu kaufen.«
    »Lass mal«, antwortete Schleicher, »wir müssen das offensiv behandeln. Die Heimstätten sollten die Beerdigung übernehmen, und ich rede mit dem Chef, dass er die Trauerrede hält.
    Verstehst du, als Zeichen gegen die Vereinsamung alter Menschen.«
    Luzie verzog das Gesicht. »Wenn er da mitspielt...«
    Dann legte sie auf und drehte den Schreibtischsessel so, dass sie zum Panoramafenster sehen konnte, auf die Klosterkirche und weit hinaus auf die Hügellandschaft Oberschwabens. Aber was sie sah, war nicht die Landschaft, sondern ein Gesicht, ein mageres, spitzes Gesicht mit einem spöttischen Ausdruck darin, als wolle es sagen: Das ist unser Schleicher, liebe Luzie, wie er leibt und lebt und ich es nicht anders von ihm erwartet habe.
     
    D er Mann, der vor der Tür stand, war um die dreißig und kräftig. Die muskulösen, ein wenig krummen Beine steckten in Radlerhosen, über seine Windjacke trug er einen kleinen Rucksack geschnallt. Er hatte dunkles Haar, das in einem Zopf nach hinten gebunden war, und lächelte Kuttler fast zutraulich an.
    »Ich nehme an, Sie sind von der Polizei«, sagte er, »und vermutlich störe ich Sie in Ihrer Arbeit, aber Sie müssen wissen, dass ich es gewesen bin, der heute Morgen Alarm geschlagen hat... Treutlein ist mein Name, Harald Treutlein.« Er streckte Kuttler eine kräftige behaarte Hand hin. Kuttler erwiderte den Händedruck und bat den Mann in den kleinen Flur mit den gerahmten Fotos von Lanzarote und dem Garderobenständer, an dem noch ein Wintermantel mit einem kleinen Pelzbesatz hing.
    »Weiß man denn schon, woran sie gestorben ist?«
    Kuttler ging nicht darauf ein. »Sie kannten Frau Gossler?« »Ja«, antwortete Treutlein, »natürlich kannte ich sie...« »Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?«
    »Das weiß ich gar nicht.« Die Antwort kam zögernd. »Wissen Sie, ich kannte vor allem ihren Sohn, und der ist ja nun schon eine Weile tot... das sind, warten Sie – das sind auch schon wieder sieben Jahre her, und seither komme ich nur selten hier vorbei, heute eigentlich nur, weil meine Frau ihren Kamelhaarmantel zum Schneider hier im Erdgeschoss gebracht hat.«
    Wie hieß noch einmal die Frau, überlegte Kuttler, die auf den Anrufbeantworter gesprochen hatte? Isolde? Ich heiße jetzt Treutl ein...
    »Ihre Frau heißt Isolde?«
    »Woher wissen Sie?«, fragte Treutlein zurück.
    »Sie hatte engeren Kontakt zur Frau Gossler?«
    »Eigentlich nicht. Aber...«
    »Wissen Sie, ob Frau Gossler irgendwelche Angehörigen hat?«
    »Nein«, sagte Treutlein, »ich glaube nicht, da war nie die Rede davon... Fragen Sie wegen der Beerdigung?«
    »Das hat sie wohl schon selbst geregelt.« Kuttler machte eine Pause und sah Treutlein ins Gesicht. »Dieser Sohn«, fragte er dann, »woran ist er denn gestorben?«
    »Bei einem Unfall«, antwortete Treutlein. »Er war mit dem Fahrrad unterwegs, und da hat ihn ein Autofahrer angefahren und liegen gelassen.
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