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Uferwald

Titel: Uferwald
Autoren: Ulrich Ritzel
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ein wenig zu sehr um die eigene Epidermis gekümmert haben und ein wenig zu wenig um die Luzies? Blüht deswegen womöglich ein neues Glück mit dem Bilch? Sollte es so sein, will ich dabei nicht stören und gehe nach Hause, wo ich dieses Tagebuch beginne, mit Luzie und leider auch mit dem Bilch, etwas Besseres habe ich im Augenblick nicht zu bieten.
     
    Sonntag, 18. Oktober
    Sonntagnachmittag, und nichts hat sich geändert, manchmal denke ich, die Sonntagnachmittage sind die wahre Hölle. Spaziergang mit der Alten Frau auf dem Hochsträß, ja, schön ist das Herbstlaub in der Sonne, Indian summer sagen die Amerikaner zu dieser Jahreszeit... Ach, fragt die alte Frau, tun sie das?
    Später zu Juffy, in die Einliegerwohnung, die ihm seine Eltern eingerichtet haben, Schachspielen mit Juffy ist ein etwas einseitiges Vergnügen. Irgendwann erzählt er mir von einem Rollstuhlfahrer, den er bei seinem Praktikum kennen gelernt hat, ein ganz kaputter Typ, zwanzig Jahre auf der Straße, aber ausgefuchst. Sie hätten immer um einen Fünfer gespielt, aber gegen Rolli-Rolf hätte er keine Chance, ob ich es nicht mal versuchen wolle?
    Nun bezahlt die Neithardtsche Buchbinderei ihre Ferienarbeiter nicht so üppig, dass diese gleich mit Fünfern zocken könnten, und ich sage ihm das. Eine Flasche Bier als Einsatz gehe auch, meint er. Irgendwann ruft Isolde an, ob wir mit ins Roxy wollen, zu »Arsen und Spitzenhäubchen«, und ich sage, ich sei aus dem Alter raus, dass ich die Grimassen von Cary Grant lustig finde. Juffy ist dann mit ihr gegangen. Mit flatternden Fingern.
    Sperrsitz, vermute ich mal, hintere Reihe.
    Zuhause sagt mir die alte Frau, Isolde hätte angerufen. »Ich weiß«, sage ich.
    Ganz spät nehme ich noch das Rad, nur so, um ein bisschen Luft zu schnappen. Das Fenster von Juffys Einliegerwohnung ist dunkel, ich sehe auch nirgends Isoldes alten Renault. Dass sie es bei ihr tun, glaube ich nicht, Isoldes Vater ist Werkmeister bei Magirus, fährt einen Daimler und hat auch sonst ziemlich viereckige Ansichten.
     
    Montag, 19. Oktober
    Die siebte Woche in der Buchbinderei hat begonnen. Neun Tage noch. Noch neun Mal um sechs Uhr in der Nacht das höhnische »Guten Morgen« des Radioweckers. Die Alte Frau im Morgenmantel, die mir einen Tee aufsetzt. Der Radweg in die Oststadt. Der Mief im Umkleideraum, Schweiß, Kernseife, die Ausdünstungen der Toiletten daneben, die nicht richtig abgetrennt sind, der Geruch nach heißem Leim und Maschinenöl, die scharfkantigen Ränder der frisch abgetrennten Papierbögen, die den Handballen immer wieder haarfeine Schnitte verpassen. Die zwei endlosen Stunden, bis auch nur die erste Pause erreicht ist. Die Nachmittagsstunden, die sich quälend hinziehen. Der Vorarbeiter Lengle, der mich ganz selbstverständlich duzt und sauer ist, wenn ich es mit ihm genauso tue. Die polnischen Hilfsarbeiterinnen, darunter Sofia, die scharfe Sofia, wie der Lengle sie nennt...
    »Aber glaub bloß nicht, dass der schon mal irgendwas in der Sofia drinne gehabt hat, nich mal nen Finger«, sagt mir Rocco, als wir im »Bären« noch ein Bier trinken. Rocco arbeitet am Schneideautomaten und spricht ein Deutsch, wie man es nur in der Wiblinger Grundschule lernt.
     
    Dienstag, 20. Oktober
    Nach der Schicht im »Wichtig«, will Zeitung lesen, aber es sind ziemlich viele Leute da, so dass nur das »Tagblatt« noch zu haben ist. Ich sehe mich nach einem freien Platz um und sehe plötzlich, dass am Tischchen neben mir Isolde sitzt und zu mir hochschaut.
    T: »Hast du das eigentlich bei uns in der Klasse gelernt?« Isolde (verhuscht lächelnd): »Was?«
    T: »So zu gucken, dass man dich nicht sieht.«
    I: »Ach, das! Das kannst du nicht in der Schule lernen. Das muss vorher da sein.«
    Ich frage, wie »Arsen und Spitzenhäubchen« war, und sie fängt an, mir den Film zu erzählen, und ich sage, dass Filme-Erzählen noch unausstehlicher ist als Nudelsalat, und sie sagt, warum fragst du mich dann? Lies doch deine Zeitung!
     
    Freitag, 23. Oktober
    Wieder dämmert ein Freitagabend übers Land, also gehe ich in den GlucksKasten, etwas zu früh, aber Luzie und Schleicher sind schon da, beide noch immer leicht nachgedunkelt von der kalifornischen Sonne und der guten Hautcreme, aber Schleicher befindet sich im Geist bereits wieder ganz auf der Höhe der gesellschaftlichen Theorien und studiert irgendwelche Monographien, und damit er auch versteht, was er studiert, unterstreicht er jeden Satz, wobei er ein Lineal benutzt
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