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Ueberdog

Ueberdog

Titel: Ueberdog
Autoren: Joerg-Uwe Albig
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bräuchte ich mal deine Schuhgröße«, sagte die Verkäuferin. »Lass mich raten – sechsunddreißig? Wir haben nur siebenunddreißig, aber darauf kommt es ja wohl nicht an.«
    Die Kartons standen spiralförmig aufgestapelt; ich dachte, wie beabsichtigt, an die Pirouette eines Basketballers unter dem Korb. Ich starrte durch das Schaufenster nach draußen, wo sich die Menge jetzt anschickte, die Scheibe einzudrücken. Hinterdem Gewoge erkannte ich den Langhaarigen; er sah mich an, schwenkte die Arme wie ein Fluglotse.
    »Dreihundertachtundneunzig, das weißt du ja, Stella. Zahlst du bar oder mit Karte?«
    Ich sah nach draußen, wo der Langhaarige jetzt begann, mit Luftsprüngen auf sich aufmerksam zu machen. Er ließ mich nicht aus den Augen. Mit den gespreizten Fingern der rechten Hand signalisierte er eine Fünf; er reckte den Arm, als hoffte er auf den Segen von oben.
    Die Verkäuferin legte den Kopf schräg und sah mich lächelnd an. Den Karton, der jetzt vor ihr auf dem Tresen stand, öffnete sie mit einer Vorsicht, als enthielte er Skorpione. Ich winkte dem Langhaarigen zu. Ich reckte acht Finger in die Luft. Ich sah seine wegwerfende Geste; lächelnd hob ich den Schuhkarton in die Höhe. Sein Gesicht verklärte sich, verzog sich in Schmerz und beißendem Glück.
    Die Sicherheitsleute hatten jetzt offenbar beschlossen, ein Ventil zu öffnen. Für eine Sekunde ließen sie die Tür los, um sie sofort wieder zu schließen. Das Mädchen mit dem verklebten Pony war knapp durchgeschlüpft; schwer atmend stand sie im Laden, mit leuchtenden Augen und einer Schnittwunde auf der Stirn. Sie sah sich um, als hätte sie ein Nahtoderlebnis.
    »Zu dumm«, sagte ich zu der Verkäuferin. »Mein Freund hat das Geld. Sehen Sie? Da drüben steht er.«
    Die Verkäuferin folgte meinem Finger, sah den Langhaarigen, der uns jetzt ekstatisch zuwinkte, sieben Finger in der Luft. Ein Hüne mit Sonnenbrille und Kapuzenjacke stieg plötzlich vor ihm auf; fuchtelnd bemühte sich der Langhaarige, seine Armsignale an ihm vorbei zu plazieren.
    »Das ist doch gar kein Problem, Stella«, sagte die Verkäuferin. »Du hast fünf Tage gewartet, jetzt soll es daran nicht mehr scheitern, hab ich recht? Du holst dir von deinem Freund das Geld, und dann holst du dir von mir diese fetten Sneakers ab, okay? Und du nimmst am besten den Hintereingang.«
    Verzweifelt sah mich der Langhaarige an, als ich mich zehn Minuten später durch die Menge gekämpft hatte, aber ohne die Turnschuhe vor ihm stand. Doch dann hellte sich sein Gesicht schnell auf, und pfeifend vor Vorfreude folgte er mir um den Block zur Rückseite des Sportgeschäfts. Sechs der vierzehn Fünfziger stopfte ich gleich in die Innentasche meines Trenchcoats; acht nahm die Verkäuferin in Empfang. Feierlich übergab sie mir den Schuhkarton.
    Als ich ihn weiterreichte, blickte sich der Langhaarige ängstlich um. Es sah aus, als fürchtete er, dass ihm auf den letzten Metern noch jemand die Beute entrisse. Dann rannte er, von kleinen Luftsprüngen unterbrochen, stadtauswärts die Fußgängerzone hinab.

25
    Die Tage wurden kälter. Die dreihundert Euro reichten für vier Nächte in einem Künstlerhotel. Dann rollten Regenwolken von der Nordsee über die Stadt, ballten sich kurz und wie nachdenklich über dem Fernsehturm. Kurz entschlossen vergossen sie dann ihre Wassermassen. Ich mied die Orte, die ich mit Schmiddel, Zork und den anderen aufgesucht hatte, die Solarien, das Tropenhaus, das Zoologische Museum. Ich genoss es sogar, mein Gesicht in den Regen zu halten, an den durchnässten Haarspitzen zu lutschen, die mir der Wind in den Mund blies. Ich genoss es, die Tränen abzulecken, die nicht meiner kleinen Freude oder Trauer entsprangen, sondern direkt einem der zahllosen Himmel.
    Wenn ich genug hatte vom Hamburger Wetter, verzog ich mich in die Passagen am Gänsemarkt oder am Neuen Wall. Ich spazierte durch Kaufhäuser, Bahnhöfe, den Fuhlsbütteler Flughafen oder die Lobby vom Atlantic . Ich hielt kurze, stärkende Siestas im Michel, in Sankt Katharinen oder Sankt Nikolai. Oder ich machte es mir in einer der Bücherhallen bequem, an einem sauberen Resopaltisch, den leichten Kopf auf einem Fotoband von Dwight Cumberland oder Rosalie Zoltan.
    Um die Männer in den zerschlissenen Parkas, um die Frauen mit den 80-Liter-Taschen von Ikea machte ich nach wie vor einen Bogen. Sie hatten kein Geheimnis, keine Magie; ich warunbeugsamer als sie, wilder, als sie jemals werden würden. Mich langweilten
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