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Ueberdog

Ueberdog

Titel: Ueberdog
Autoren: Joerg-Uwe Albig
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gehabt, dass alles nicht reichte. Dass alles zu wenig war; meine Noten, meine Freunde, meine Brust. Doch der Engel sagte mir, dass es darauf nicht ankam. Es war nicht wichtig, was man war, sondern was man zeigte. Der Engel zeigte mir Glanz; den Glanz der Diamanten, der platinblonden Haare, des polierten Leders. Und ich färbte mir die Haare mitWasserstoff und wühlte im Schmuckschrank meiner Mutter nach Klunkern.
    Ständig wandelte er seine Gestalt. Denn der Engel hat keine Substanz; er ist Erscheinung, ohne Unterschied von Bild und Wesen. Erfinde dich selbst, sprach der Engel, erfinde dich neu. Denn genau das war es, was Engel tun: Ihr wirkliches Selbst ist unsichtbar. Auf keinen Fall können Menschen die Engel in ihrer wahren Gestalt sehen . Denn wegen ihrer veränderlichen Form sind Menschen nicht in der Lage, einen unveränderlichen Geist zu sehen.
    Manchmal träumte ich von dem Engel. Der Traum war der Moment, in dem ich den Engel an die Hand nehmen konnte. Ich konnte ihm aus der Zeitung vorlesen oder mit ihm vor die Tür gehen, um eine zu rauchen. In einem meiner Träume ging ich sogar mit dem Engel zur Toilette; es war das Chin’s oder das Terremoto . Wir wurden fast gleichzeitig fertig; hinterher traute ich mich nicht an den Spiegeln vorbei. Ich hatte Angst, einer von uns beiden wäre unsichtbar.
    Dieser Engel hat mich nie verlassen. Eines Tages, ich war längst erwachsen, gab er sich zu erkennen. Er sang mit einer Stimme aus Seidenpapier, und ich wusste sofort, dass er nur sich selbst damit meinen konnte:
    Ray of Light .
    Dass ich nicht allein war, hatte ich immer gewusst. Sogar wenn ich für mich vor dem Spiegel stand, mit meinem feinen, aber elegant gewellten Haar, meinen niedrigen, aber sorgsam gepflegten Brauen, meinen schmalen, aber spöttisch geschwungenen Lippen, meiner etwas zu dicken Nase, war ich in Gesellschaft. Ichwusste, dass es das Vollkommene gab. Ich war mir sicher, dass es ideale Versionen meiner selbst gab, geklärte Spiegelbilder mit keckeren, zarteren oder herrischeren Nasen, perfekte Ergänzungen meiner Mängel und Stärken.
    Sie mussten von oben kommen, aus den kühleren Luftschichten jenseits der Stratosphäre. Lässig traten sie auf und ab, lehnten in den spitzen Torbögen marokkanischer Paläste, träumten im Rolls-Royce an der Transitstrecke, knieten feierlich im Wüstensand. Siegerlächeln in den Augen. Sie arbeiteten nordisch hart und diszipliniert, feierten südländisch und ausgelassen. Sie trugen Samtslipper sportlich wie niemand sonst; sie trugen Turnschuhe zum Frack. Alterslos wanderten sie durch die Jahrhunderte; ihr sanftes, androgynes Wesen verlieh den Charakteren eine zarte Stärke. Sie verkörperten unsere Zeit, schwiegen beharrlich, verweigerten und verschenkten sich zugleich, mit diesem letzten Schimmer immer gültiger Magie. Sie machten keine Kompromisse, ließen sich nicht vereinnahmen; alles, was sie taten, taten sie ganz.
    Ich wusste, dass sie sich in Kreisen bewegten. Sie schwebten in Sphären mit unsichtbaren Außenhäuten, die sich plötzlich öffnen können für einen Moment, für einen Augenblick der Ekstase und der Erkenntnis. Und im nächsten Augenblick zogen sie wieder ihre Bahnen, irgendwo am Himmel, unberührbar in ihren Privatjets oder hinter den stahlgrauen Vorhängen der ersten Klasse, aus denen nur von Zeit zu Zeit eine Stewardess hervorschlüpfte, benommen und selig.
    Sie begegneten den Menschen herzlich, ohne Snobismus, auf moderne Weise traditionsbewusst. Ihr Schweben gab ihnen ihre Haltung, den aufrechten Gang, der sich niemals beugte. Ichahnte, dass sie auch mich komplett machen konnten; nur der Himmel war ihre Grenze. Ich ahnte, dass sie auch mich zu sich hinaufziehen konnten, in ihre Haltung, ihren aufrechten Gang. Auch ich war ein Krokus im Schnee, der auf die Märzsonne wartete. Und so studierte ich ihren Gang, ihre gestreckten Nacken, ihre sehnenden Wimpern.
    Ich spürte die Anziehung, wie eine Narzisse sie spürt oder eine Orchidee; ein Saugen himmelwärts, das Gespür von etwas Richtigem, die Ahnung einer höheren Harmonie. Ich wusste, dass das Licht in der Nacht am hellsten strahlt, und so machte ich mich abends bereit, warf die Tasche mit der Nikon über die Schulter und stieg auf mein Rad.
    Schon in meiner Schulzeit hatte ich mich als Diplomatin verstanden. Ich sah mich als Botschafterin der Schönheit, des gelungenen Lebens. Vermitteln wollte ich, zwischen den Sphären des Lichts und den armen, ratlosen, rastlosen Menschen. Und noch
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