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Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Titel: Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel
Autoren: Jandy Nelson
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hab ich mir gesagt. Zwar redet keiner von verrottendem Fleisch, Maden und Skeletten, aber wie kann man das verdrängen? Ich hab alles in meiner Macht Stehende versucht, um diese Gedanken auszuschalten, aber dazu war es absolut notwendig, mich von Baileys Grab fernzuhalten. Doch gestern Nacht, als ich all die Sachen auf ihrer Kommode angefasst habe, wie immer vor dem Schlafengehen, ging mir auf, dass sie nicht wollen würde, dass ich mich an die schwarzen Haare in ihrer Bürste klammere oder die widerliche Schmutzwäsche, die ich mich immer noch weigere zu waschen. Sie würde das total eklig finden: Lady-Havisham-und-ihr-Hochzeitskleideklig und trostlos. Ich bekam da so ein Bild von ihr, wie sie auf dem Hügel von Clovers Friedhof sitzt mit den uralten Eichen, Kiefern und Mammutbäumen – wie eine Königin, die Hof hält, und da wusste ich: Die Zeit ist reif.
    Obwohl der Friedhof nah genug ist, um zu Fuß hinzugehen, springen wir in den Truck, als Toby fertig ist. Er steckt den Schlüssel ins Zündschloss, dreht ihn aber nicht um.
Durch die Windschutzscheibe starrt er hinaus auf die goldenen Wiesen, wobei er mit zwei Fingern ein Stakkato auf das Lenkrad trommelt. Er bringt sich auf Touren, weil er etwas sagen will. Ich lehne den Kopf an das Seitenfenster und schaue auf die Felder, stelle mir sein Leben hier vor und wie einsam es sein muss. Ein oder zwei Minuten später fängt er mit seiner tiefen, beruhigenden Bassstimme an zu reden. »Ich hab es immer gehasst, ein Einzelkind zu sein. Hab euch beneidet. Ihr wart so eng miteinander.«
    Er packt das Lenkrad und starrt geradeaus. »Ich war so fasziniert davon, Bailey zu heiraten, dieses Baby zu kriegen … ich war fasziniert davon, Teil eurer Familie zu werden. Das wird sich jetzt lahm anhören, aber ich hab gedacht, ich könnte dir da durchhelfen. Ich wollte es. Ich wusste, Bailey hätte auch gewollt, dass ich es tu.« Er schüttelt den Kopf. »Und dann hab ich das alles versaut. Ich hab einfach … weiß auch nicht. Du hast verstanden – mir schien, du warst die Einzige, die das tat. Und plötzlich hab ich mich dir so nah gefühlt, zu nah. Ich war ganz durcheinander im Kopf -«
    »Aber du hast mir geholfen«, unterbreche ich ihn. »Du bist der Einzige gewesen, der mich überhaupt finden konnte. Ich hab dieselbe Nähe gespürt, obwohl ich das nicht verstanden habe. Ich weiß nicht, was ich ohne dich gemacht hätte.«
    Er dreht sich zu mir. »Echt?«
    »Echt, Toby.«
    Er lächelt mit zusammengekniffenen Augen. »Na ja, ich bin mir ziemlich sicher, dass ich jetzt die Finger von dir lassen kann. Aber ich weiß ja nicht, wie das mit dir und deinen
Frühlingsgefühlen ist …« Er zieht eine Augenbraue hoch und mustert mich, dann lacht er, ganz frei und unbeschwert. Ich boxe ihn auf den Arm. Er macht weiter: »Also, vielleicht können wir ja ein bisschen Zeit miteinander verbringen – ich glaub nämlich, ich kann Gramas Einladungen zum Essen nicht länger ablehnen, sonst lässt sie mich von der Nationalgarde holen.«
    »Kaum zu fassen, du hast gerade zwei Witze in einem Satz gemacht. Irre.«
    »Ich bin schließlich nicht die totale Dumpfbacke, weißt du?«
    »Ist wohl so. Irgendeinen Grund muss es ja dafür gegeben haben, dass meine Schwester den Rest ihres Lebens mit dir verbringen wollte!« Und einfach so stimmt alles zwischen uns, endlich.
    »Na denn«, sagt er und startet den Truck. »Dann muntern wir uns mal mit’ner Tour zum Friedhof auf.«
    »Drei Witze, unglaublich.«
    Das ist wahrscheinlich Tobys Wortvorrat für das ganze Jahr gewesen, denke ich, als wir dann schweigend die Straße entlangfahren. Das Schweigen ist voller Spannungen. Meinen. Ich bin nervös. Ich weiß eigentlich nicht, wovor ich Angst habe. Ich sag mir immer, es ist nur ein Stein, es ist nur ein hübsches Stück Land mit prächtigen Bäumen und Aussicht auf die Wasserfälle. Es ist nur ein Ort, an dem der Körper meiner wunderschönen Schwester in einem sexy schwarzen Kleid und Sandalen verrottet. Puh. Ich kann nichts dagegen machen. Alles, was ich mir nicht erlaubt habe, mir vorzustellen, überfällt mich: Ich denke an luftlose, leere
Lungen. Lippenstift auf ihrem starren Mund. Das Silberarmband, das Toby ihr geschenkt hatte, an ihrem pulslosen Handgelenk. Ihren Nabelring. Haare und Nägel, die im Dunkeln wachsen. Ihr Körper ohne Gedanken darin. Ohne Zeit. Ohne Liebe. Ein Meter achtzig Erde türmen sich auf ihr. Ich denke daran, wie das Telefon in der Küche geklingelt hat, an das dumpfe
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