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Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Titel: Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel
Autoren: Jandy Nelson
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herausgefunden, dass sie ein Flugticket nach Gott weiß wo hatte, sie wollte nicht sagen, wohin, und dass sie vorhatte, es zu benutzen. Ein One-Way-Ticket. Sie sagte mir, sie könnte es nicht, das Muttersein würde einfach nicht in ihr stecken. Ich hab ihr gesagt, in ihr würde genug stecken, sie könne nicht weggehen, sie hätte die Verantwortung für euch Mädchen. Ich hab ihr gesagt, sie müsse sich zusammenreißen wie jede andere Mutter auf dieser Erde. Ich hab ihr gesagt, dass ihr alle hier wohnen könntet, ich würde ihr helfen, aber sie dürfe nicht einfach so abhauen wie all die anderen in dieser verrückten Familie, das würde ich nicht zulassen. ›Aber wenn ich weggehen würde‹, beharrte sie, ›was würdest du machen?‹ Immer wieder hat sie das gefragt. Ich weiß noch, dass ich immer wieder versucht habe, sie an den Armen festzuhalten, damit sie wieder Vernunft annahm, so wie früher, wenn sie sich als kleines Mädchen zu sehr aufgeregt hatte, aber sie rutschte mir immer wieder durch die Finger, als wäre sie aus Luft.« Grama atmet tief. »An diesem Punkt war ich selbst schon sehr aufgebracht und du weißt ja, wie das ist, wenn ich hochgehe. Ich fing an zu brüllen. Ich hab auch einen guten Schuss Wirbelwind in mir, da ist kein Vertun, besonders als ich jünger war, Big hat recht.« Sie seufzt. »Ich bin ausgerastet, komplett ausgerastet. ›Was glaubst du denn, was ich mache, wenn du weggehst?‹, hab ich gebrüllt. ›Es sind meine Enkelinnen. Aber, Paige,
wenn du gehst, kannst du nie wieder zurückkommen. Nie. Für die beiden wirst du tot sein, in ihren Herzen tot – und für mich bist du auch tot. Tot. Für uns alle.‹ Das genau waren meine widerwärtigen Worte. Dann hab ich mich für den Rest des Abends in meinem Atelier eingeschlossen. Am nächsten Morgen war sie weg.«
    Ich bin auf meinem Stuhl zusammengesackt, als hätte ich keine Knochen. Grama steht auf der anderen Seite des Raumes in einem Gefängnis aus Schatten. »Ich hab deiner Mutter gesagt, sie soll nie wiederkommen.«
    Sie kommt wieder, Mädchen.
    Ein Gebet, nie ein Versprechen.
    Ihre Stimme ist kaum lauter als ein Flüstern. »Es tut mir leid.«
    Ihre Worte sind wie Sturmwolken durch mich hindurchgebraust, sie haben die Landschaft verändert. Ich schau ihre gerahmten grünen Damen ringsherum an, allein drei von ihnen hängen in der Küche, Frauen, die irgendwo zwischen hier und da stecken geblieben sind – jede einzelne Paige, alle Paige in einem wallenden grünen Kleid. Da bin ich mir jetzt sicher. Ich denke daran, wie Grama dafür gesorgt hat, dass unsere Mutter in unseren Herzen nie gestorben ist, wie sie dafür gesorgt hat, dass Paige Walker nie die Schuld dafür tragen musste, ihre Kinder verlassen zu haben. Und ich denke daran, wie Grama sich – ohne unser Wissen – diese Schuld selbst aufgeladen hat.
    Ich erinnere mich an das Hässliche, das ich an jenem Abend oben an der Treppe gedacht hatte, als ich mitgehört hatte, wie sie sich bei der Halbmutter entschuldigte. Auch
ich hatte ihr die Schuld gegeben. Für Dinge, die nicht mal die allmächtige Grama im Griff hatte.
    »Es ist nicht deine Schuld«, sage ich mit einer Gewissheit in der Stimme, die ich noch nie gehört habe. »Das war es nie, Grama. Sie ist gegangen. Sie ist nicht wiedergekommen – es war ihre Wahl, nicht deine. Egal, was du zu ihr gesagt hast.«
    Grama stößt die Luft aus, als hätte sie sechzehn Jahre lang den Atem angehalten.
    »O, Lennie«, sagt sie. »Ich glaube, du hast gerade das Fenster aufgemacht«, sie fasst sich an die Brust, »und sie rausgelassen.«
    Ich stehe von meinem Stuhl auf und gehe zu ihr, zum ersten Mal begreife ich, dass sie zwei Töchter verloren hat, ich weiß nicht, wie sie das ertragen kann. Und noch etwas geht mir auf. Ich teile diesen doppelten Kummer nicht. Ich habe eine Mutter und ich stehe so dicht vor ihr, dass ich sehen kann, wie das Gewicht der Jahre ihre Haut nach unten zieht, ich kann den Tee in ihrem Atem riechen. Und ich frage mich, ob Baileys Suche nach Mom auch hierher geführt hätte, zurück zu Grama. Das hoffe ich. Sanft lege ich ihr meine Hand auf den Arm, wundere mich darüber, wie so eine große Liebe für einen Menschen in meinem winzigen Körper Platz finden kann. »Bailey und ich haben so ein Glück, dass wir dich haben«, sage ich. »Wir haben den Hauptpreis gewonnen.«
    Für einen Moment schließt sie die Augen und dann bin ich plötzlich in ihren Armen und sie drückt mich, als wollte sie mir sämtliche
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