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Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Titel: Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel
Autoren: Jandy Nelson
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Knochen zerquetschen. »Ich bin diejenige,
die Glück gehabt hat«, sagt sie in mein Haar. »Und jetzt, glaube ich, müssen wir unseren Tee trinken. Schluss damit.«
    Ich geh wieder zurück an den Tisch und mir wird eines klar: Das Leben ist ein verdammtes Chaos. Echt, ich werde Sarah sagen, dass wir eine neue philosophische Bewegung gründen müssen: Chaosenzialismus anstelle von Existenzialismus: für all jene, die in dem essenziellen Chaos schwelgen, das sich Leben nennt. Denn Grama hat recht, es gibt nicht nur eine Wahrheit, sondern ein ganzes Bündel von Geschichten, die sich alle auf einmal abspielen, in unseren Köpfen, in unseren Herzen, und sich dabei in die Quere kommen. Es ist alles ein wunderbares, katastrophales Chaos. Wie dieser Tag, an dem Mr James mit uns in den Wald gegangen ist und triumphierend gerufen hatte: »Das ist es. Das ist es!«, als die schwindelerregende Kakofonie von Soloinstrumenten versucht hatte, zusammen zu musizieren. Das ist es.
    Ich schaue auf den Haufen Wörter, die einmal mein Lieblingsbuch waren. Ich möchte die Geschichte so wieder zusammenbauen, dass Cathy und Heathcliff eine andere Wahl treffen können und sich nicht mehr ständig selbst im Weg sind, damit sie ihren rasenden, vulkanischen Herzen folgen, bis sie sich in den Armen liegen. Aber das kann ich nicht. Ich hole den Mülleimer unter der Spüle heraus und fege Cathy und Heathcliff und den Rest ihres unglücklichen Schicksals hinein.
     
    Später an diesem Abend spiele ich auf der Veranda immer wieder Joes Melodie, dabei überlege ich, in welchen Büchern
die Liebe tatsächlich am Ende triumphiert. Bei Lizzie Bennet und Darcy, Jane Eyre kriegt schließlich Mr Rochester, aber der hatte seine Frau eine ganze Zeit lang eingesperrt, und das ist beunruhigend. Dann fällt mir noch Florentino Aziza aus Liebe in Zeiten der Cholera ein, doch der musste über fünfzig Jahre auf Fermina warten, um dann auf einem Schiff zu landen, das nirgendwohin fährt. Uah. Ich würd sagen, die literarische Ausbeute ist hier ziemlich mager, und das deprimiert mich. Wie konnte wahre Liebe in den Klassikern nur so selten obsiegen? Und was noch wichtiger ist: Was kann ich dafür tun, dass sie bei mir und Joe obsiegt? Wenn ich ihn doch nur zum Chaosentialismus bekehren könnte … Wenn ich doch nur Räder am Hintern hätt, ich wär ein Leiterwagen . Nach allem, was er heute gesagt hat, ist das wohl eine realistische Einschätzung meiner Aussichten.
    Wahrscheinlich spiele ich dieses Lied zum fünfzigsten Mal, da merke ich, dass Grama hinter der Tür steht und mir zuhört. Ich dachte, sie hätte sich im Atelier eingeschlossen, um sich vom emotionalen Tumult des Nachmittags zu erholen. Plötzlich befangen, höre ich mitten im Ton auf zu spielen. Sie macht die Tür auf und kommt mit dem Mahagonikasten vom Speicher auf die Veranda. »Was für eine wunderbare Melodie. Ich wette, ich könnte sie mittlerweile selber spielen.« Sie verdreht die Augen, während sie das sagt, stellt den Kasten auf den Tisch und lässt sich auf die kleine Bank fallen. »Aber es ist schön, dich wieder spielen zu hören.«
    Ich beschließe, es ihr zu erzählen. »Ich spiele im Herbst wieder für die erste Klarinette vor.«

    »O, Schatz«, trällert sie. Im wahrsten Sinne des Wortes. »Das ist Musik für meine unmusikalischen Ohren.«
    Ich lächele zwar, aber mir grummelt der Magen. Bei der nächsten Probe will ich es Rachel sagen. Alles wäre so viel leichter, wenn ich sie einfach nur mit einem Eimer Wasser übergießen könnte wie die Böse Hexe des Westens.
    »Setz dich doch.« Grama klopft auf das Kissen. Ich setze mich zu ihr, die Klarinette ruht auf meinen Knien. Sie legt ihre Hand auf den Kasten. »Alles hier drinnen darfst du lesen. Mach alle Umschläge auf. Lies meine Zettel, die Briefe. Aber mach dich drauf gefasst, dass nicht alles schön ist, das gilt besonders für die frühen Briefe.«
    Ich nicke. »Danke.«
    »Schon gut.« Sie nimmt die Hand vom Kasten. »Ich mache einen Spaziergang in die Stadt, da treffe ich mich mit Big im Saloon . Ich kann einen starken Drink gebrauchen.« Sie zaust mir durchs Haar und lässt mich und den Kasten allein.
    Nachdem ich meine Klarinette weggepackt habe, sitze ich mit dem Kasten auf dem Schoß da und fahre mit den Fingern über den Kreis galoppierender Pferde. Immer wieder. Ich will ihn öffnen und will es doch wieder nicht. Wahrscheinlich werde ich meine Mutter nie näher kennenlernen als jetzt, wer immer sie auch ist,
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