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Ueber die Verhaeltnisse

Ueber die Verhaeltnisse

Titel: Ueber die Verhaeltnisse
Autoren: Barbara Frischmuth
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eingreifen kann. Von welchem Standpunkt auch immer du es siehst, es ist einfach schon geschehen. Und nichts läßt sich rückgängig machen. Du merkst, wie sie alle damit beschäftigt sind, ins Verderben zu rennen. Die ganze Geschichtsschreibung ist wie ein Geschworenengericht, das beieinem endlosen Prozeß abstimmt, dem die Zeugen weggestorben sind. Gut, du kannst sagen: ›Wer spricht heute in Ungarn noch Türkisch?‹ Aber hundertfünfzig Jahre lang hat man in Ungarn Türkisch gesprochen und Deutsch noch viel länger. Das übersteigt ein Menschenleben. Das kann ein Mensch nicht abwarten. Das Unglück folgt wie der schwarze Kaffee aufs üppige Essen.«
    Infolge von Borischs Anekdotensucht erinnert sich Mela bildfolgenmäßig an Details des Schulunterrichts, wenn sie einen Namen rückläufig bis zum ersten Gehörthaben verfolgt und dabei auf angestaubte, bigotte Geschichtsträger stößt, die so aussehen, als gehörten sie zum Salzburger Marionetten-Theater, und so gar nichts mit den dramatischen Personen von Borischs historischem Welttheater des Reichs der europäischen Mitte zu tun haben. Borisch benutzt andere Quellen. »Denk an die Herrscherin.« Borisch preßt Melas Ferse gegen Melas Hintern. »Das junge Ding wird in Preßburg zur Königin gekrönt und nimmt beim anschließenden Bankett die zu schwere Krone ab, legt sie neben den Teller und strahlt: ›Damit es mir besser schmeckt!‹ Na, was soll ich dir sagen, es schmeckt ihr besser und besser, und nach vielen Jahren ist sie so fett, daß man einen Aufzug konstruieren muß, um sie zum Beten in die Kapuzinergruft abfahren zu lassen. Siehst du, mit gewissen Dingen soll man nicht spielen, sonst kommt das schwarze Ende nach.«
    Borisch lebt mit diesen Geschichten, und sie kann sich noch immer aufregen. »Der Palacký hat recht gehabt, als er 1848 an die Deutsche Nationalversammlung in Frankfurt schrieb: ›Denken Sie sich dieses Reich in eine Menge Republiken und Republikchen aufgelöst – welch ein willkommener Grundbau zur russischen Universalmonarchie.‹ Und wierecht er gehabt hat«, sie versetzt Mela einen Klaps auf die nackte Schulter, der durch ihre Erregtheit wie ein Schlag ausfällt, »bis auf die Monarchie.«
    Mela wird nicht nur mit Händen, sondern auch mit Worten massiert und hat sich in all den Jahren gewöhnt daran; auch an Borischs Detektivarbeit beim Aufspüren von ursprünglichen Namen, die einer Verdeutschung zum Opfer fielen. »Der hl. Hofbauer zum Beispiel«, triumphiert Borisch, »weißt du, wie dieser Klemens Maria da geheißen hat?«
    Mela schüttelt resignierend den Kopf. »Dvořák natürlich, als er noch kein Redemptoristenpater, sondern ein kleiner mährischer Bäckergeselle war. Aber was willst du, wenn schon die Heiligen deutscher hinauswollen, wie soll man es dann der Familie des Präsidentschaftskandidaten verübeln.«
    Mela zieht sich bedächtig an. Ihr ist wohl am ganzen Körper, wie immer, wenn Borisch sie in die Kur genommen hat. »Schau«, sagt sie, »ich kenn so viele Leute, was soll ich da noch so genau wissen wollen, wie die Menschen früher waren. Laß einen zweimal ins SPANFERKEL kommen, und ich kann dir ungefähr sagen, wie er ist. Was gehen mich seine Vorfahren an?«
    Borisch nimmt die elastische Binde von ihrem Handgelenk. »Soll ich dir sagen, was du bist? Kulturfaul.«
    Mela lacht und stellt Kaffeewasser zu, während Borisch sich ausführlich die Hände schrubbt, ein Chirurg, der das Besteck weggelegt hat.

    Mela hat nicht vergessen, daß sie vom Land kommt, aber es hängt ihr nicht nach. Ihre Eltern hatten einen Bauernhof, ein Wirtshaus und eine Fleischhauerei. Ihr Vater war bei einem Jagdunfall, der nie ganz geklärt werden konnte, ums Lebengekommen. Ihre Mutter starb ihm bald nach, an Überarbeitung und Übersorgung, wie es hieß.
    Während ihre Brüder um das Erbe stritten, kam sie zu einer Tante, der Witwe eines Bauunternehmers, die sie trotz ihres krankhaften Geizes ins Gymnasium schickte und später sogar studieren lassen wollte.
    Schon zu ihren Schulzeiten kochte Mela für die Tante, um einen gewissen Spielraum zu haben, das war ihr immer schon wichtig. Noch heute zieht sich ihre Erinnerung zusammen, wenn sie daran denkt, wie sie jeden verlegten Büstenhalter und jedes Paar durch Laufmaschen außer Gebrauch gesetzte Strümpfe hatte rechtfertigen müssen. Nur beim Essen sparte die Tante nicht. »Das einzige, wovon der Mensch wirklich was hat, liebe Melanie.«
    Auf das Studium hatte Mela sich nur eingelassen,
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