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Ueber die Verhaeltnisse

Ueber die Verhaeltnisse

Titel: Ueber die Verhaeltnisse
Autoren: Barbara Frischmuth
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am wenigsten passieren, die hat er in der Hand, im Kopf; die Zahlen sind das Verläßlichste, undschon widerfährt ihm, was er immer vermeiden wollte, eine leise Hinwendung zur Diktion des Vorgängers, ein nachgeblafftes, fragendes Ja?, das soviel wie »keine Widerrede« bedeutete. Aus seinem Munde aber heißt es »Wie komme ich eigentlich dazu?«.
    Auf ewig gefangen im Dialekt der Region, bedient er sich der legendären Unterrichtssprache, eines Plastikgeschwürs, entstanden aus den Ablagerungen einer mißverständlichen Amtssprache und den vielen Plünderungszügen durch eine gnadenlos ausgebeutete Literatur, der man entreißt, was sich zur Entstellung eignet.
    »Der Arme«, flüstert Mela, die mit einem Stück Schweinsbraten heraufgekommen ist, das nach Küchenschluß übriggeblieben war, und Borisch wackelt mit dem Kopf und lacht.
    »Ein richtiger Poppo. Genauso stelle ich mir den alten Poppo von Grabfeld vor.«
    »Was für einen Poppo?« Mela hat kein Verhältnis zur Geschichte. Sie wittert Feindpropaganda, wann immer Borisch mit ihrer magyarischen Besserwisserei jahrhunderte-, ja jahrtausendeweit ausholt.
    »Weil längst erwiesen ist, daß die Babenberger keine Babenberger, sondern Popponen waren.«
    Mela schweigt argwöhnisch. Auch ist sie ein wenig in ihrem Familiensinn – durch Kinder wird man verwandt – gekränkt. Als Chef wäre sich’s der Chef schon schuldig, klingendere Saiten aufzuziehen.
    Borisch dreht den Fernseher ab. »Ob Popponen oder Arschianer …« Manchmal stürzt auch Borisch mit ihren Witzen ab. Und Mela seufzt, nach Gerechtigkeit gierend, über ihrem Schweinsbraten, den sie noch immer auf dem Schoß hält, so unvorbereitet hat der flimmernde Anblick des umsDekorum ringenden Chefs sie in Borischs Lehnstuhl niedergestreckt.
    »Du immer mit deiner Geschichte«, sagt sie, als sie den Schweinsbraten auf den Tisch legt, in Alu-Folie gewickelt und daher noch warm.
    Die Geschichten aus der Geschichte sind das einzige, was Borisch hat mitnehmen können. Für sie ist die Geschichte ein Haus, aus dem niemand sie rauswerfen kann, auch wenn sie die Miete nicht regelmäßig bezahlt. »Wenn ich schon nicht weiß, wohin ich noch gehe, will ich wenigstens wissen, woher ich komme.«
    Mela lebt im Jetzt und in ihrer Stärke. Ihr genügt es, daß sie den Chef kennt und die meisten anderen, die was zu reden haben, auch wenn sie es noch so tölpelhaft sagen, sie kennt sie persönlich. Vielleicht wird das einmal Geschichte sein, und sie hat Geschichte erlebt.
    Aber unter Geschichte, die sie nicht erlebt hat, mag sie sich nicht viel vorstellen, auch wenn sie seinerzeit die Daten hat auswendig lernen müssen. Das einzige, was sie mit der Geschichte verbindet, ist Borisch, und sie respektiert deren Vorliebe für den Kronprinzen Rudolf und für den Grafen Kàrolyi. Der eine, behauptet Borisch, sei zu früh gestorben, der andere zu spät in die Welt, will heißen, zu Ansehen gekommen.

    Melas Körper ist eine Fundgrube. Der neue Liebhaber visitiert mit seiner Baby-Zunge die Wölbungen ihres runden, weißen Fleisches; auch er erschmeckt den Brotgeruch. Es ist Melas Ruhe-Sabbat, ihr höchsteigenes Wochenende, ihr Luna-Tag, an dem das SPANFERKEL geschlossen bleibt, zum Leidwesen all derer, die es auch an Montagen in die gewohnte Richtung zieht.
    Mela ist mit dem jungen Mann aufs Land gefahren. Natürlichist der Mann jung, wenn auch beinah gleich alt wie sie. Aber bei den Aussichten, die er hat, und gemessen an der möglicherweise noch zu machenden Karriere, muß er ein junger Mann sein, einer, den der Chef wohlwollend in seinem Schatten duldet.
    Er kniet nackt auf dem Bett, sein Glied steht etwas schief, sein Hintern leuchtet weiß, wo die Badehose ihn abgedeckt hat, und er kann sich nicht sattschmusen.
    Am Anfang war die Blamage, aber Mela weiß das Kind zu schaukeln. Sie bettet es in ihren Schoß, säugt es, herzt es, sie versteht sich aufs wilde Trösten. Ihre Hände setzen sich über jede Verhaltung hinweg, wenn sie eine räudige Katze so streichelte, wüchse der der Pelz nach. Als dem jungen Mann der Saft einschießt, fallen die Jahre der grausamen Gewöhnung von ihm ab, vergessen sind die routinemäßigen Hüpf- und Spritztouren in die violett ausgeleuchteten Grotten einer gefälschten Verruchtheit, der einzige Schimmer von Gegenwelt, der es dennoch nie mit der penetranten Tatsächlichkeit des Amts hat aufnehmen können. Und für eine Weile ist er entlassen aus der Hierarchie der Sohnesmörder, mit der sein
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