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Ueber die Verhaeltnisse

Ueber die Verhaeltnisse

Titel: Ueber die Verhaeltnisse
Autoren: Barbara Frischmuth
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marxistisch, »bestimmt das Bewußtsein. Die Idee überherrscht die Geschichte.« Aber da ist nichts, nichts Besonderes. Nur das Wachstum soll nicht aufhören. »Es muß«, sagen die, die sich lauthals auf eine gute alte Idee berufen. Und die sind im Kommen, sagt er sich. Oder auch nicht, wenn es schlechter wird. Nicht er würgt an der Verantwortung, die Verantwortung würgt ihn. Auch ihmkommt dieses Wort oft ungelegen, und manchmal trifft es ihn wie ein gegnerischer Schlag unter der Gürtellinie. Die reden sich alle leicht und erwarten, daß er die Verantwortung dafür übernimmt, daß die anderen die Verantwortung übernehmen.
    Immer in der Defensive. Ja, Himmel Sackrawalt, was glauben die denn, wofür er angetreten ist? Natürlich hat er Ideen. Die Idee ist längst erloschen, wie das Haus Österreich. »Casca il mondo«, hatte der Kardinalstaatssekretär damals in Rom gesagt, nach Königgrätz, aber damals war es noch nicht so weit, und die Welt hat das alles überlebt. Der Chef und sein gesundgeschrumpftes Land. Aber selbst das hat sich aufgehört. Er hat es nicht, das Land hat ihn.
    Er war ein Mann der Bewegung, von Jugend an, aber die Bewegung stagniert, eingeklemmt zwischen ungelösten Verkehrs- und Energieproblemen. Schleichende Zeit in diesem Land, dabei sitzen alle auf demselben Vulkan. Früher war Sturm, keine gute alte Zeit. Fast sehnt er sich in die Erste Republik zurück. Da hätte er genau gewußt, wo stehen.
    Im Jahre zweiundfünfzig kam der rote Bundespräsident dem frisch ernannten schwarzen Kardinal, der Sozialminister einer früheren Regierung gewesen war, mit dem Salonwagen bis zur Grenze entgegen. Flüstert der Greis im Stresemann und schwarzen Zylinder dem Greis im Purpur zu: »Jetzt bist du der Rote und ich der Schwarze.« Alte Geschichten, an denen sich sein Herz freut. Heute hätte so was keinen Biß mehr, eher schon der Beichtvater der Maria Theresia, Ignaz Müller, dessen Quittung über preußische Bestechungsgelder erhalten ist.
    Allenthalben schaut er der Gier in die Augen, und der Jammer ist, daß er die Betrüger nicht einmal am Blick erkennt. Er aber soll die Augen zudrücken, damit der Staat nicht auseinanderfällt. Wär ja auch noch schöner, wenn er sich vorschreibenließe, wen er fallenläßt. Am liebsten würde er all die Glücksritter mit einem moussierenden Doppler erschlagen. Die anderen sind noch schlimmer, nur geschickter, weil schon länger im Geschäft.
    Aber sie werden ihn schon noch kennenlernen, alle.

    Mela hat im Lauf der Jahre eine Reihe von Liebhabern gehabt, Borisch immer nur einen, ihren Mann – und die von Mela in der Vorstellung. Mela geizt nicht mit ihren Erlebnissen, und daß sie Borisch davon erzählt, stärkt ihre Erinnerung. Nur die Geschichte von Frôs Entstehung behält sie für sich, die einzige, auf die Borisch mit unverminderter Spannung wartet, all die anderen Geschichten lang.
    »Du Schlampe!« sagt Borisch, während ihre Hände mit festem, aber freundlichem Druck um Melas Bauchnabel kreisen. »Hast du dich schon wieder petschieren lassen?« Die Hölle weiß, wie sie zu diesem Wort gekommen ist. »Noch dazu von einem wildfremden Mann …«
    »Wildfremd? Der ist seit Jahren Gast.«
    »Wird er dich heut nacht wieder besuchen?«
    »Wenn ich ihn einlade.«
    Borisch klatscht mit den Händen auf Melas Bauch. »Du redest wie von Haustieren oder Schoßkindern. Was ein Mann ist, schert sich einen Dreck um deine Einladung.« Mela hat ihre Geschichte der dreihundertdreiunddreißigsten Nacht, wie sie meint, doch ganz gut erzählt, und Borisch lohnt es ihr, indem sie die paar blauen Flecken, die sie beim letzten Scharmützel davongetragen hat, keiner weiteren Behandlung unterzieht.
    Aber auch diese Geschichte hat Borisch in ihrem Verdacht bestärkt, daß es in dieser Stadt nur einen wirklichen Mann gibt, nämlich Edvard, das Monster, ihren eigenen, den zu beredensie nicht müde wird, in den höchsten, aber auch in den niedrigsten Tönen, so daß Mela sich zuweilen selbst in dem Alptraum verstrickt findet, sie wäre verheiratet mit ihm.
    »Dieses besoffene Schwein von einem Polacken«, wütet Borisch, und keine zwei Minuten später erklärt sie: »Weißt du, die Polen und die Ungarn sind die einzigen, die einander immer verstanden haben.« Und wenn Mela sich einzuwenden gestattet, daß sie doch soeben erfahren habe …, winkt Borisch energisch ab. »Hin und wieder trinkt er eben was. Das muß doch erlaubt sein.«
    Ihre Kinder bezeichnet Borisch als Wiener
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