Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ueber die Verhaeltnisse

Ueber die Verhaeltnisse

Titel: Ueber die Verhaeltnisse
Autoren: Barbara Frischmuth
Vom Netzwerk:
doch einen großen Schluck von dem ihr eingeschenkten Bier trinkt, meint eines der Kinder des Landwirts, ein etwa fünfjähriger Bub: »Hat die einen Zug.«
    Mela zieht die Brauen hoch und rollt eindrucksvoll mit den Augen. Da sucht das Kind, flink wie eine Eidechse, das Weite.

    Frôs Wunsch, in das Bild, vor dem sie gerade steht, hineinzugelangen, verfolgt sie wie ein Hintergedanke durch mehrere Jahre und viele Bilder hindurch.
    Als sie zum ersten Mal, zusammen mit ihrer Schulklasse, das Kunsthistorische Museum besucht, bleibt sie allein vor dem Bild »Die Jäger im Schnee« zurück. Als der Lehrer, der nach ihr gesucht hat, sie findet und zur Rede stellt, deutet sie mit dem Zeigefinger auf eine der schwärzlichen schlittschuhlaufenden Figuren und erklärt, ergriffen von einem Staunen, das sich selbst auf den Lehrer überträgt: »Da bin ich, ganz klein.« Und der Blick des Lehrers geht tatsächlich einige Male zwischen ihr und dem Bild hin und her, bis er schließlich den Kopf schüttelt, ihre Hand nimmt und sie schweigend zu den anderen bringt, die bereits im Freien sind und zu Füßen der korpulenten steinernen Herrscherin warten.
    Von da an geschieht es ihr dann und wann, daß sie sich auf einem Bild, das ihre Aufmerksamkeit erregt, ausnehmen kann, wenn sie es nur lange genug anschaut. Manchmal glaubt sie sich sogar in Vögeln oder Bäumen wiederzuerkennen, ineiner Elster zum Beispiel, ja selbst in Blumen. So als sei es ihr bereits gelungen, sich hinüberzuretten, und sie müsse nur noch zu diesem neuen Leben erwachen. Als sie noch nicht zur Schule ging, erzählte sie ihrer Mutter, daß sie aus einem anderen Land komme, in dem ihr Vater König sei.
    Sie sei in einer Mohnkapsel oder in einer Seerose – »So genau weiß ich das nicht mehr« – zur Welt gekommen. Man habe ihr alles zuliebe getan und sie auf einer sonnengefleckten Wiese spielen lassen. Doch irgend jemand habe sie in eine Kiste gesteckt, gestohlen und auf eine lange Reise mitgenommen. Sie könne sich noch gut an die tiefe Dunkelheit und das starke Rütteln erinnern. Dann aber sei die Kiste irgendwo verlorengegangen. »Alles war still, und ich habe geschlafen, bis du mich gefunden hast.«
    Mela hat das Kind lange angesehen. Freilich wußte sie, daß Kinder Geschichten erfinden und es keinen Sinn hat, sie der Mogelei zu bezichtigen, auch wenn die Lügen knüppeldick daherkommen. »Und«, hat sie Frô gefragt, »hat dein Vater, der König, dich nicht gesucht?«
    »Doch, aber er weiß nicht, wo das Land ist, in dem die Kiste verlorengegangen ist. Und ich weiß nicht, wo das Land ist, in dem man mich in die Kiste gesteckt hat.«
    »Das ist also die ganze Schwierigkeit?« Mela hat versucht, Zeit zu gewinnen.
    »Weil ich das alles nicht weiß.«
    Mela hat Frô jeden Spielraum gelassen. »Du mußt nur wollen«, hat sie zu ihr gesagt. »Wo ein Wille ist, ist ein Weg, und was sonst noch dazu gehört, kann ich ermöglichen. Nur wissen mußt du, was du willst.«
    Frô hat sich alle Mühe gegeben mit dem Wollen, sie ist nur nicht sicher, ob sie will, was sie wollen soll. Was sie nichtwill, ist: ins SPANFERKEL. Noch vor ein paar Jahren hat Mela mit dem Gedanken gespielt, sie ausbilden zu lassen, um sie dann als Compagnon ins Geschäft einzubinden. Dieser Gedanke ist längst verflogen.
    Frô krümmt sich unter den Blicken der Gäste und schämt sich für ihr Grüßen-Müssen. Wenn Mela sie hin und wieder bittet, auszuhelfen, sei es wegen eines Krankheitsfalls oder wenn besonders viel zu tun ist, macht sie es, ohne sich etwas anmerken zu lassen, aber sobald sie nicht mehr gebraucht wird, ist sie verschwunden. Ihre Mahlzeiten nimmt sie sich mit in die Wohnung hinauf, es sei denn, Mela und sie essen gemeinsam im Extrazimmer, in das nur ganz wenige Gäste, wie der Chef zum Beispiel, Zutritt haben.
    Aber vollkommen hat Mela die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Auch sie ist über einen Umweg zum SPANFERKEL gekommen. Und durch das Lokal ist Frôs Zukunft – ob so oder so – gesichert.

    Wie alle Menschen, die sich gern skandalisieren lassen, liebt Borisch obszöne Geschichten. Die obszönste Geschichte aber ist für Borisch die Geschichte selbst. Die Schamlosigkeit, mit der die Dinge sich über den Umschweif von mehreren Generationen auf ihr böses Ende zubewegten, sei viel größer als die vielen schlüpfrigen Schweinereien, auf die die einzelnen Mächtigen und sonstigen Individuen solche Lust haben.
    »Weißt du«, sagt sie, »das schlimmste ist, daß man nicht mehr
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher