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Ueber den gruenen Klee gekuesst - Roman

Ueber den gruenen Klee gekuesst - Roman

Titel: Ueber den gruenen Klee gekuesst - Roman
Autoren: Jana Seidel
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schrieb, wurden von Anfang an verrissen. Er weigerte sich, seinen Wandel zu erklären oder sich überhaupt noch in irgendeiner Form zu äußern. Man dachte daher, er wäre durchgedreht und tatsächlich einem mystischen Glauben verfallen. War ja auch nicht unwahrscheinlich, nichtige Anlässe können bei sensiblen Künstlernaturen offenbar extreme Wandlungen hervorrufen. Cat Stevens wird Yusuf Islam, Paul McCartney wird bei einem Angelausflug zum Extremvegetarier, »Conan, der Babar« wird kalifornischer Gouverneur. Vielleicht war aber auch bloß Irland schuld: Ich habe mal gelesen, dass der irische Dichter William Butler Yeats ähnlich wie Zuckermann geschmäht wurde, als er plötzlich über Elfen und Drachen geschrieben hat. Na ja, vielleicht hätte der auch einfach nicht versuchen sollen, mit diesen Fabelwesen auch noch in spiritistischen Sitzungen Kontakt aufzunehmen. Zuckermann jedenfalls zog sich ganz und gar zurück, schrieb nichts mehr, entwickelte ein massives Alkoholproblem und starb schließlich Ende der 70er Jahre so vereinsamt und verarmt, wie es sich für einen romantischen deutschen Dichter gehört.
Sein Brief ist eindeutig an eine Frau gerichtet, an eine echte und zumindest zu dem Zeitpunkt noch lebende. Es ist ein Liebesbrief – auf Englisch verfasst. Vieles ist unleserlich, aber er scheint sie zu bitten, auf ihn zu warten, er müsse für eine Weile nach Deutschland zurück. Leider nennt er den Namen der Empfängerin nicht. Er schreibt an seine »Liebste«. Nun mein Verdacht: Über ein Liebesleben Zuckermanns weiß man rein gar nichts – aber offenbar hatte er eines. Was, wenn er überhaupt nie an Elfen geglaubt hat? Wenn er nicht einmal an Elfen interessiert gewesen ist, sondern nur eine bildhafte Umschreibung für seine »Liebste« gesucht hat? Wenn die Liebe ihn hat durchknallen lassen – und nicht etwa irgendwelcher esoterischer Kram –, könnte das seinen Ruf durchaus wieder herstellen. Wenngleich ich sowieso finde, die Kritiker hätten sich nicht so anstellen sollen. Die späten Elfengedichte finde ich viel anrührender als den bemüht intellektuellen, politischen Kram. Wie auch immer: Ich bin einem sehr großen und sehr faszinierenden Geheimnis auf der Spur. Und ich bin wild entschlossen, dieser heißen Fährte zu folgen, die mich von dem anderen Elend wegführen soll und mich immerhin schon hierhergebracht hat. Wenn doch nur mein Vater endlich käme. Und wenn ich doch meine Freunde nicht jetzt schon so vermissen würde. Leider sind die alle in Hamburg – einer Stadt, die mir im Moment einfach zu sehr auf die Nerven geht. Aber wozu gibt es Handys? Ich wühle wieder in meiner Tasche. Und ich habe sogar Empfang! Das ist sehr hilfreich. Dann kann ich zumindest mit Juli die ganze Geschichte noch mal durchkauen. Und zwar die Martin-Geschichte, nicht die Zuckermann-Geschichte. Ich selbst finde es ja furchtbar nervig, wenn Liebeskummerpatienten immer wieder dieselbe Geschichte
runterleiern und dabei ständig ihre Sichtweise wechseln. Mal überwiegt der blanke Hass, dann wieder die Hoffnung, alles sei vielleicht doch nur ein Missverständnis gewesen.
    Juli versteht das zum Glück und kichert:
    »Und ich dachte immer, du wärst die Vernünftige von uns. Hier meine Meinung: Die Dinge sind leider manchmal einfach ganz genau so, wie sie scheinen. Und nein, es gibt keine harmlose Erklärung für Martins Verhalten.«
    Die Vernünftigste von uns allen? Dass ich nicht lache! Alles nur Tarnung. So, wie ich mich vorhin über den Anblick der Bücherregale gefreut habe, fürchte ich, dass in mir immer noch das Mädchen steckt, das sich ihr halbes Schülerleben in der Bibliothek verschanzt hat. Wo sonst hatte man eine so riesige Auswahl an Fantasiewelten? Die hat unsere ach-so-vernünftige Louisa nämlich jedem Schulbuch über Fotosynthese, pythagoreische Dreiecke und 1000-jährige Kriege eindeutig vorgezogen. Gelegentlich habe ich darüber sogar vergessen, zur Schule zu gehen. Stattdessen habe ich aufregende archäologische Expeditionen zu Pharaonengräbern unternommen, die Welt umsegelt und – zugegeben – auch die eine oder andere Liebesgeschichte nacherlebt. Während die anderen pubertären Langweiler sich nachmittags mit anderen pickeligen Volltrotteln trafen, bin ich zu den Figuren aus meinen Büchern zurückgekehrt. Die fand ich viel aufregender und interessanter. Man hätte mich zu dem Zeitpunkt mit voller Berechtigung »unsozial« nennen können. Aber woher sollte ich das wissen? Vermisst habe ich
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