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Über das Haben

Über das Haben

Titel: Über das Haben
Autoren: Harald Weinrich
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freie und volle Entfaltung seiner Persönlichkeit möglich IST .»
    *
    In diese Tradition der Freiheits- und Menschenrechte stellt sich auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, das in seiner ursprünglichen Fassung am 23. Mai 1949 in Bonn beschlossen worden ist. Es hebt an mit einem Katalog der Grundrechte, deren erster und wichtigster Artikel in einer SEINS -Bestimmung ausgedrückt ist: «Die Würde des Menschen IST unantastbar». Die dann folgenden Grundrechte, neunzehn an der Zahl, sind jedoch mehrheitlich in HABEN -Prädikationen formuliert, zum Beispiel: «Jeder HAT das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit». Oder: «Jeder HAT das Recht, seine Meinung in Wort, Bild und Schrift frei zu äußern und zu verbreiten». Ferner auch: «Alle Deutschen HABEN das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln».
    Gewiss gibt es im Grundgesetz auch Grundrechte, die mit abweichenden sprachlichen Mitteln, zum Beispiel nominal formuliert sind. Andere Artikel wiederum sind zwar verbal formuliert, geben aberder stilistisch-rhetorischen Neigung nach, durch einen Wechsel im lexikalischen Ausdruck einen Gleichklang der Formulierungen zu vermeiden, zum Beispiel: «Das Eigentum und das Erbrecht WERDEN GEWÄHRLEISTET ».
    Manche der später ergänzend formulierten Menschenrechte sind gleichfalls als HABEN -Rechte formuliert, zum Beispiel aus der «Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten» vom 5. Mai 2002 ein ausführlich formuliertes Grundrecht, von dem hier nur der erste und der letzte Satz des Artikels 5 zitiert werden sollen: «Jede Person HAT das Recht auf Freiheit und Sicherheit. […] Jede Person, die unter Verletzung dieses Artikels von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen IST, HAT Anspruch auf Schadensersatz.» Dieser Artikel liest sich wie eine legislative Ausformulierung der
Habeas Corpus
Akte von 1679.
    *
    Die Menschenrechte als HABEN -Rechte zu proklamieren, ist eine Sache, ihre Verwirklichung im gesellschaftlichen Leben eine andere. Diese enttäuschende Erfahrung ist das leidvolle Thema einer großen Demonstration von
African Americans
, die am 28. August 1963 in Washington stattgefunden hat. Bei diesem bedeutsamen Ereignis hat der amerikanische Bürgerrechtler Martin Luther King seine berühmte Rede gehalten, die als
I have a dream speech
in das Gedächtnis der amerikanischen Nation eingegangen ist.[ 2 ]
    Martin Luther King beginnt seine Rede mit einer historischen Erinnerung an Abraham Lincoln und an seine Befreiung aller amerikanischen «Neger» (so wörtlich beim Redner:
Negroes
) aus der «langen Nacht ihrer Sklaverei». Doch selbst ein Jahrhundert später, zur Zeit dieser Rede, ist das große Versprechen der Emanzipation noch nicht voll eingelöst. Und so haben sich nun Hunderttausende von «farbigen Staatsbürgern» (
citizens of color
) in Washington versammelt, um die uneingeschränkten Grundrechte der Freiheit und Gleichheit einzufordern. «In gewissem Sinne sind wir in die Hauptstadt unserer Nation gekommen, um einen Scheck zu kassieren» (
In a sense we HAVE come to our nation’s capital to cash a check
).
    Martin Luther King ist sich ganz sicher, dass die Zeit dafür reif ist. Eben das ist sein großer Traum, der nichts anderes will, als die Geschichte des «amerikanischen Traums» (
the American dream
) fortzuschreiben und zur Vollendung zu führen. Den Inhalt seines Traums stellt der Redner in neun Abschnitten vor, die jeweils markant beginnen:
«I HAVE a dream»
und sodann den Bogen schlagen von «heute» bis zu dem Datum «eines Tages», dem erträumten Tag der vollendeten Freiheit.
    Es sollen hier nur Auszüge aus dem ersten, dem vierten und dem letzten Traum im Wortlaut zitiert werden. Im ersten Traum erinnert der Redner an die Unabhängigkeitserklärung von 1776 und verlängert deren Geltung hoffnungsvoll in die Zukunft:
    I HAVE a dream that one day this nation will rise up and live out the true meaning of its creed:
«
We hold these Truths to be self-evident that all Men are created equal
(…).
»
    [Ich HABE einen Traum, dass sich unsere Nation eines Tages erheben und die wahre Bedeutung ihres Glaubenssatzes erleben wird: «Wir halten es für selbstverständliche Wahrheiten, dass alle Menschen gleich geschaffen sind.]
    Nach dieser Erinnerung an die Grundlagen des «amerikanischen Traums» erklärt der Redner auch seinen eigenen Traum als Zukunftstraum, zum Beispiel für seine Familie:
    I HAVE a dream
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