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Über das Haben

Über das Haben

Titel: Über das Haben
Autoren: Harald Weinrich
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Kissen
    nachts meinem Kopf.
    Die Pappe hier liegt
    zwischen mir und der Erde.
    Die Bleistiftmine
    lieb ich am meisten.
    Tags schreibt sie mir Verse,
    die nachts ich erdacht.
    Dies ist mein Notizbuch,
    dies meine Zeltbahn,
    dies ist mein Handtuch,
    dies ist mein Zwirn.
    Ich möchte Günter Eichs Inventur-Gedicht im Kontext dieses Buches als ein HABEN -Gedicht verstanden wissen und muss das begründen. Denn das Wort HABEN kommt in den Versen nur einmal vor, und dann noch als bloßes Hilfsverb ( HAB – geritzt). Ein weiteres Mal ist es (als poetische Lizenz!) in einer Ellipse versteckt (Ø – erdacht). Versteckt oder eher auf andere Weise offengelegt ist HABEN jedoch auch in dem an mehreren Stellen mit Nachdruck wiederholten Possessiv-Pronomen ( MEINE Mütze etc.). So haben auch mehrere Interpreten den Inhalt des Gedichts als einen Katalog von HABSELIGKEITEN beschrieben, die diesem Kriegsgefangenen als letztes geblieben sind.
    Wir wollen noch genauer zusehen, was es mit dieser Inventur auf sich hat. Was eine Inventur in Friedenszeiten ist, regelt im ordentlichen Geschäftsleben das Handelsgesetzbuch. Vorgeschrieben wird dort auch, zusätzlich zur geschäftsbegleitenden Buchführung, eine außerordentliche, normalerweise am Ende des Geschäftsjahres durchzuführende Bestandsaufnahme aller Vermögenswerte und Verbindlichkeiten.Das geht, ebenso wie alle andere Buchführung, nach dem Prinzip von SOLL und HABEN . In diesem Sinn – aber fast unerreichbar weit entfernt von jeder friedenszeitlichen Inventur – ist auch Günter Eichs Bestandsaufnahme im Kriegsgefangenenlager aufzufassen als eine außerordentliche Inventur seiner armseligen HABE oder eben seiner letzten HABSELIGKEITEN .
    Und wo ist das SOLL ? Der Katalog alles dessen, was dieser Mann hinter Stacheldraht NICHT HAT , aber nach bürgerlichen Maßstäben HABEN SOLLTE ? Das bleibt in dem Gedicht ungesagt, kann aber in großen Zügen aus der Situation erschlossen werden. Auslöser des Gedichts ist offenbar, wie in der Erinnerung ehemaliger Kriegsgefangener unvergessen (ich weiß, wovon ich rede), eine bevorstehende Leibesvisitation oder «Filzung» aller Lagerinsassen. Es müssen dabei alle im Besitz der Gefangenen befindlichen Gegenstände vorgewiesen werden, zum demonstrativen Beweis dafür, dass sie keine Waffen (Messer oder dergleichen) mit sich führen. Ein größerer Nagel, wie ihn der Kriegsgefangene Eich noch besitzt und mit dem er die überaus wichtige Konservenbüchse, sein Essgeschirr, als sein Eigentum kennzeichnen kann, ist schon ein höchst heikler Gegenstand, der vor den «begehrlichen Augen» nicht nur der Kameraden, sondern vor allem der Bewacher sorgsam verborgen werden muss.
    Es erscheint mir wichtig, beim Lesen des Gedichts von Günter Eich nicht zu übersehen, wie prekär für den Kriegsgefangenen diese ihm auferlegte Inventur ist. Und vor allem sind Aufzeichnungen aller Art immer verdächtig. Gut also, dass der Gefangene Eich nur eine Bleistiftmine, nicht einen ganzen Bleistift bei sich führt. Und wie riskant ist schließlich der in den wollenen Socken sogar vor den Augen des Lesers verborgene Inhalt des Brotbeutels?
    In dieser Sicht der Dinge ist nun auch deutlich zu erkennen, was in der Inventur des Kriegsgefangenen zu Buche schlägt, als sein SOLL und sein HABEN . Das Schlimmste an seiner Situation ist, dass er bei Wind und Wetter, tags wie nachts, kein Dach über dem Kopf HAT . Das ist für ihn das alles beherrschende SOLL . Doch kann er auf der HABEN -Seite wenigstens verbuchen, dass er Mütze, Mantel und gegen den Regen eine Zeltplane und ein Stück Pappe bei sich führt. So weit für das tägliche Überleben.
    Nur vor diesem Hintergrund ist eine abwägende Bewertung der Lage nach SOLL und HABEN möglich. Sie ist nicht mehr von Günter Eich vorgenommen worden, sondern seit den Tagen der Gruppe 47 von der deutschen Literatur, das heißt konkret, von den zahllosen Lesern und Leserinnen, die diesen Text fest in den Kanon ihrer wertbeständigsten Gedichte aufgenommen haben.

– 33 –

MENSCHENRECHTE SIND HABEN-RECHTE
    Der Anfang der Menschen- und Bürgerrechte ist vor langer Zeit in Großbritannien gemacht worden, als König Karl II. im Jahre 1679 für alle Bürger des englischen Königreiches die HABEAS CORPUS AKTE erließ. Die Rechtsformel, unter der dieses Freiheitsrecht zu einem historischen Ereignis geworden ist, besagt dem Wortlaut nach: «Du magst den Körper HABEN ». Gemeint ist, dass die Obrigkeit einen beschuldigten
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