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Trügerische Ruhe

Trügerische Ruhe

Titel: Trügerische Ruhe
Autoren: Tess Gerritsen
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Schußverletzung ist nie eine Lappalie. Kann ich sie mir mal ansehen?«
    »Ich kann Sie nicht bezahlen ...« Er hielt inne, und eine zerzauste Augenbraue hob sich, als ihm ein schlauer Gedanke kam. »Es sei denn, Sie hätten gern ’n Stück Wildbret.«
    »Ich will nur sichergehen, daß Sie nicht verbluten. Wir können das Finanzielle später regeln. Kann ich Ihren Fuß sehen?«
    »Wenn Sie unbedingt wollen«, murrte er und humpelte ins Haus zurück.
    »Na, das wird sicher ein Genuß«, meinte Rachel.
    In der Küche war es warm. Rachel warf ein Birkenscheit in den Holzofen, und süßlicher Rauch quoll hervor, als sie den schmiedeeisernen Deckel wieder auflegte.
    »Sehen wir uns den Fuß mal an«, sagte Claire.
    Elwyn schlurfte zu einem Stuhl, wobei er blutige Streifen auf dem Fußboden hinterließ. Er hatte die Socke noch an, und auf der Oberseite, nahe dem großen Zeh, war ein ausgefranstes Loch zu sehen, als ob eine Ratte die Wolle angenagt hätte. »Stört mich fast gar nich’«, sagte er. »Lohnt die ganze Aufregung nich’, wenn Sie mich fragen.«
    Claire kniete nieder und rollte die Socke herunter. Sie löste sich nur langsam; die Wolle klebte am Fuß – nicht durch das Blut, sondern durch Schweiß und tote Haut.
    »O Gott«, sagte Rachel und hielt sich die Hand vor die Nase. »Wechseln Sie nie Ihre Socken, Elwyn?«
    Die Kugel hatte das fleischige Gewebe zwischen den beiden ersten Zehen durchdrungen. Claire fand die Ausschußöffnung an der Unterseite des Fußes. Im Moment sickerte nur wenig Blut heraus. Bemüht, die wegen des Geruchs aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken, prüfte sie die Bewegung aller Zehen und kam zu dem Schluß, daß keine Nerven verletzt waren.
    »Sie müssen ihn waschen und jeden Tag den Verband wechseln«, sagte sie. »Und Sie brauchen eine Tetanusspritze, Elwyn.«
    »Oh, ich hab schon eine gekriegt.«
    »Wann?«
    »Letztes Jahr, vom alten Doc Pomeroy. Wie ich mich angeschossen hab’.«
    »Ist das ein alljährliches Ereignis?«
    »Damals hat’s den anderen Fuß erwischt. War nur ’ne Lappalie.«
    Dr. Pomeroy war im Januar gestorben, und Claire hatte alle seine medizinischen Unterlagen übernommen, als sie vor acht Monaten die Praxis aus dem Nachlaß erworben hatte. Sie konnte in Elwyns Akte nachsehen und das Datum seiner letzten Tetanusspritze feststellen.
    »Ich nehme an, daß ich diesen Fuß waschen soll«, sagte Rachel.
    Claire nahm eine kleine Flasche Jodlösung aus ihrer Arzttasche und reichte sie ihr. »Tun Sie das in einen Eimer mit warmem Wasser. Lassen Sie den Fuß eine Weile darin einweichen.«
    »Ach, das kann ich schon selbst machen«, sagte Elwyn und stand auf.
    »Dann können wir auch gleich amputieren!« erwiderte Claire gereizt. »Setzen Sie sich, Elwyn!«
    »Du liebe Güte«, meinte Elwyn und setzte sich.
    Claire legte ein paar Packungen Verbände und Mull auf den Tisch. »Elwyn, Sie kommen nächste Woche in meine Praxis, damit ich nach der Wunde sehen kann.«
    »Aber ich hab’ zuviel zu tun –«
    »Wenn Sie nicht kommen, werde ich Sie wie einen Hund jagen müssen.«
    Er blinzelte sie überrascht an. »Ja, Ma’am«, sagte er brav.
    Claire unterdrückte ein Lächeln, als sie ihre Arzttasche nahm und aus dem Haus ging.
    Die beiden Hunde waren wieder im Hof, sie kämpften gerade um einen schmutzigen Knochen. Als Claire die Stufen hinunterging, wirbelten sie beide herum und starrten sie an.
    Der schwarze Hund trottete auf sie zu und knurrte.
    »Pfui«, rief Claire, aber der Hund machte keine Anstalten, zurückzuweichen. Er kam noch ein wenig näher und bleckte die Zähne. Der braune Hund erkannte seine Chance, schnappte sich den Knochen und schickte sich an, mit seiner Beute davonzuziehen. Er kam bis zur Mitte des Hofs, als der schwarze Hund plötzlich den Diebstahl bemerkte und sich wie ein geölter Blitz wieder in den Kampf stürzte. Jaulend und knurrend tobten die Tiere im Hof herum, ein einziges schwarzbraunes Knäuel. Der Knochen lag vergessen neben Claires Transporter.
    Sie öffnete die Tür und war gerade dabei, sich hinter das Steuer zu setzen, als ihr Gehirn das Bild registrierte. Sie sah nach unten und betrachtete den Knochen.
    Er war knapp dreißig Zentimeter lang und mit rostbraunen Schmutzflecken bedeckt. Ein Ende war abgebrochen, eine gezackte Bruchstelle war zurückgeblieben. Das andere Ende war unversehrt, und die typischen Kennzeichen waren deutlich zu erkennen.
    Es war ein Oberschenkelknochen. Und er stammte von einem Menschen.
    Zehn Meilen
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