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Trügerische Ruhe

Trügerische Ruhe

Titel: Trügerische Ruhe
Autoren: Tess Gerritsen
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dunklen Augen und fülligen braunen Locken, in denen sich bereits die ersten silbernen Strähnen zeigten.
    Sie beugte sich vor und stützte die Hände auf seinen Schreibtisch. »Ich bin keine Expertin oder so was«, sagte sie, »aber ich wüßte kein Tier, von dem dieser Knochen stammen könnte. Nach der Größe zu urteilen, würde ich auf ein Kind tippen.«
    »Haben Sie dort noch andere Knochen gesehen?«
    »Rachel und ich haben den Garten abgesucht, aber wir haben keine gefunden. Die Hunde könnten diesen hier irgendwo im Wald aufgestöbert haben. Sie werden die ganze Gegend durchsuchen müssen.«
    »Könnte von einem alten Indianerfriedhof stammen.«
    »Möglich. Aber muß er nicht trotzdem zur Gerichtsmedizin?«
    Sie drehte sich plötzlich um und legte den Kopf schief. »Was ist das für ein Tumult?«
    Lincoln errötete. Doreen schrie wieder in ihrer Zelle herum und stieß einen neuen Strom von Beleidigungen aus. »Zur Hölle mit dir, Lincoln! Du Idiot! Du Lügner! Zum Teufel mit dir!«
    »Klingt, als ob irgend jemand Sie nicht besonders mag«, meinte Claire.
    Er seufzte und preßte die Hand an die Stirn.
    »Meine Frau.«
    Claires Blick drückte Mitgefühl aus. Offensichtlich wußte sie über seine Probleme Bescheid. Jeder in der Stadt wußte Bescheid.
    »Es tut mir leid«, sagte sie.
    »He, du Versager!« schrie Doreen. »Du hast kein Recht, mich so zu behandeln!«
    Lincoln gab sich die größte Mühe, seine Aufmerksamkeit wieder dem Oberschenkelknochen zuzuwenden.
    »Wie alt war das Opfer Ihrer Ansicht nach?«
    Sie nahm den Knochen und drehte ihn hin und her. Für einen Augenblick hielt sie ihn mit stiller Ehrfurcht; es war ihr vollkommen bewußt, daß dieses abgebrochene Stück Knochen einst zu einem lachenden, herumtollenden Kind gehört hatte.
    »Jung«, murmelte sie. »Ich würde sagen, unter zehn Jahren.« Sie legte ihn wieder auf den Schreibtisch und stand schweigend und mit gesenktem Blick da.
    »Bei uns sind in letzter Zeit keine Kinder als vermißt gemeldet worden«, sagte er. »Diese Gegend ist seit Jahrhunderten bewohnt, und es tauchen immer wieder mal alte Knochen auf. Vor hundert Jahren war es gar nicht so ungewöhnlich, jung zu sterben.«
    Sie runzelte die Stirn. »Ich glaube nicht, daß dieses Kind eines natürlichen Todes gestorben ist«, sagte sie leise.
    »Wie kommen Sie darauf?«
    Sie beugte sich vor, um seine Schreibtischlampe anzuknipsen, und hielt den Knochen nahe ans Licht. »Hier«, sagte sie.
    »Es ist alles so verkrustet, daß Sie es durch den Schmutz kaum sehen können.«
    Er zog seine Brille aus der Tasche – noch etwas, das ihn daran erinnerte, wie die Jahre vergingen, wie seine Jugend ihm entglitt. Er beugte sich ebenfalls vor und versuchte zu erkennen, worauf sie zeigte. Erst als sie mit dem Fingernagel einen Klumpen Dreck weggekratzt hatte, sah er den keilförmigen Einschnitt.
    Es war die Spur eines Beils.

2
    Als Warren Emerson endlich wieder zu Bewußtsein kam, stellte er fest, daß er neben dem Holzstoß lag und daß ihm die Sonne in die Augen schien. Das letzte, woran er sich erinnerte, waren Schatten, silbriger Reif auf dem Gras und vom Frost herausgetriebene Erdaufwerfungen. Er hatte Brennholz gehackt; er hatte die Axt geschwungen und sich an dem Klang der hallenden Schläge in der frischen Morgenluft erfreut. Die Sonne war noch nicht über den Wipfel der Kiefer vor seinem Haus gestiegen.
    Jetzt stand sie hoch über dem Baum, was bedeutete, daß er eine ganze Weile hier gelegen hatte; vielleicht eine Stunde, nach dem Stand der Sonne zu urteilen.
    Warren setzte sich langsam auf; sein Kopf schmerzte, wie er es hinterher immer tat. Sein Gesicht und seine Hände waren taub vor Kälte, beide Handschuhe hatte er verloren. Er sah die Axt neben sich liegen, die Klinge steckte tief in einem Ahornklotz. Ein Tagewerk an Brennholz, alles schon gespalten, lag um ihn verstreut. Es dauerte quälend lange, bis er diese Eindrücke registriert und die Bedeutung jedes einzelnen bedacht hatte. Seine Gedanken formten sich nur mit großer Mühe, als seien sie von weit her angeschleppt worden und in einem Zustand der Auflösung und Unordnung bei ihm angekommen. Er hatte Geduld mit sich; irgendwann würde alles einen Sinn ergeben.
    Er war bald nach Sonnenaufgang hinausgegangen, um sein Holz für den Tag zu hacken. Jetzt lag das Resultat seiner Arbeit um ihn herum. Er war fast mit dem Morgenpensum fertig gewesen, hatte eben die Axt in den letzten Holzklotz getrieben, als die Dunkelheit ihn
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