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Trügerische Ruhe

Trügerische Ruhe

Titel: Trügerische Ruhe
Autoren: Tess Gerritsen
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Jahren, als sie beide noch jung waren und zusammen am Seeufer gesessen hatten. Wie haben unsere Hände sich verändert, dachte er. Meine sind jetzt vernarbt und ledrig; ihre sind ganz knotig von Arthritis. Aber jetzt sitzen wir hier und halten wieder Händchen, und sie ist immer noch meine Iris.
    Durch einen Schleier aus Tränen sah er sie an. Und beschloß, daß er doch noch nicht bereit war zu sterben.
    Lincoln wußte, wo er sie finden würde, und sie war tatsächlich da; sie saß auf einem Stuhl am Bett ihres Sohnes. Irgendwann in der Nacht war Claire aus ihrem eigenen Krankenhausbett gestiegen und in Morgenmantel und Pantoffeln den langen Flur hinunter zu Noahs Zimmer geschlurft. Jetzt saß sie dort, eine Decke um die Schultern gezogen, und im Licht der Nachmittagssonne sah sie sehr müde und blaß aus. Gott helfe dem, der es wagt, sich zwischen die Bärin und ihr Junges zu stellen, dachte Lincoln.
    Er setzte sich auf einen Stuhl gegenüber von ihr, und ihre Blicke trafen sich über Noahs schlafende Gestalt hinweg. Es tat ihm weh, zu sehen, daß sie immer noch argwöhnisch war, daß sie ihm immer noch nicht ganz vertraute, aber er wußte, woran es lag. Es war erst einen Tag her, daß er ihr das Liebste im Leben wegzunehmen gedroht hatte. Jetzt sah sie ihn mit einem wild entschlossenen und zugleich ängstlichen Ausdruck an.
    »Mein Sohn hat es nicht getan«, sagte sie. »Er hat es mir heute morgen gesagt. Er hat es mir geschworen, und ich weiß, daß er die Wahrheit sagt.«
    Er nickte. »Ich habe mit Amelia Reid gesprochen. Sie waren an dem Abend bis zehn Uhr zusammen. Und dann hat er sie nach Hause gefahren.«
    Um diese Zeit war Doreen bereits tot gewesen.
    Claire atmete auf, und die Anspannung wich aus ihrem Körper. Sie ließ sich in den Stuhl zurücksinken und legte die Hand beschützend auf Noahs Kopf. Bei der Berührung der Finger, die seine Haare streichelten, schlug er die Augen auf und sah sie an. Weder Mutter noch Sohn sagten ein Wort; in ihrem stillen Lächeln lag alles, was gesagt werden mußte.
    Ich hätte den beiden diese Tortur ersparen können,  dachte Lincoln. Wenn er nur die Wahrheit gekannt hätte. Wenn Noah nur von Anfang an mit offenen Karten gespielt und zugegeben hätte, daß er den Abend mit Amelia verbracht hatte. Aber er hatte das Mädchen vor dem Zorn ihres Stiefvaters beschützen wollen. Lincoln wußte über Jack Reids Temperament Bescheid, und er verstand, daß Amelia Angst vor ihm gehabt hatte.
    Aber trotz ihrer Angst war Amelia bereit gewesen, Claire die Wahrheit anzuvertrauen. Gestern abend, kurz bevor J. D.s Raserei in einem Mord gegipfelt hatte, war Amelia aus dem Haus geschlichen und hatte sich durch die kalte, sternenklare Nacht auf den Weg zu Claires Haus gemacht. Sie war die Toddy Point Road entlanggegangen.
    Direkt an der Anlegestelle vorbei.
    Durch einen glücklichen Zufall hatte Amelia Claires Leben gerettet – und damit, wie sich herausstellen sollte, auch ihr eigenes.
    Noah war wieder eingeschlafen.
    Claire sah Lincoln an. »Wird Amelias Wort genügen? Wird irgend jemand einem vierzehnjährigen Mädchen Glauben schenken?«
    »Ich glaube ihr.«
    »Gestern sagtest du, du hättest Beweismaterial. Das Blut –«
    »Wir haben auch im Kofferraum von Mitchell Groomes Wagen Blut gefunden.«
    Es dauerte eine Weile, bis ihr die Bedeutung dieser Information klar wurde. »Doreens Blut?« fragte sie leise.
    Er nickte. »Ich glaube, Groome wollte die Sache nicht Noah anhängen, sondern dir. Deshalb hat er das Blut an die Stoßstange deines Transporters geschmiert. Er wußte nicht, welchen Wagen du an dem Abend nehmen würdest.«
    Eine Weile sagten sie beide nichts, und er fragte sich, ob es wohl so enden würde zwischen ihnen, mit Schweigen auf ihrer Seite und Sehnsucht auf seiner. Es gab so vieles, was er ihr noch über Mitchell Groome sagen mußte. Da waren die Gegenstände, die man in seinem Kofferraum gefunden hatte: die Gläser mit den Würmern und Max’ handgeschriebene Aufzeichnungen. Sowohl Anson Biologicals als auch Sloan-Routhier hatten jegliche Verbindung zu den beiden Männern in Abrede gestellt, und jetzt drohte Groome, verärgert über ihr Leugnen, den Pharmariesen mit in den Abgrund zu reißen. Lincoln wollte Claire dies und vieles andere sagen, aber er schwieg, und sein Kummer lastete so schwer auf ihm, daß ihm schon das Atmen wie eine übergroße Anstrengung erschien.
    Hoffnungsvoll sagte er: »Claire?«
    Sie hob die Augen und sah ihn an, und diesmal wandte sie
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