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Trügerische Ruhe

Trügerische Ruhe

Titel: Trügerische Ruhe
Autoren: Tess Gerritsen
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sein; vielleicht ruhten ihre Augen in diesem Moment auf ihm.
    Das Gefühl, beobachtet zu werden, war plötzlich so stark, daß er sich schnell aufrichtete und die Taschenlampe einmal ganz im Kreis schwenkte. Als der Strahl den Stamm des Ahorns streifte, entdeckte er einen zweiten Fellklumpen, größer als der erste, so daß das Tier zu erkennen war. Er ging darauf zu, und plötzlich überkam ihn die Angst wieder mit voller Wucht; die Anspannung zerrte an jedem einzelnen Nerv. Die stählernen Beschlagnägel des Halsbands reflektierten das Licht der Taschenlampe, ebenso wie die schimmernden weißen Zähne in dem offenen, leblosen Maul. Einer der Pitbulls. Die Hälfte davon, genauer gesagt. Das Tier hatte das Halsband getragen, das noch an der Kette befestigt gewesen war. Es hatte nicht fliehen können, hatte keine Chance gehabt, dem Gemetzel zu entgehen.
    Er erinnerte sich nicht, seine Waffe gezogen zu haben; er wußte nur, daß sie plötzlich in seiner Hand lag und daß die Angst ihm fast die Kehle zudrückte. Er suchte einen größeren Umkreis mit der Taschenlampe ab und fand die andere Hälfte des Hundes und seine Eingeweide, die in einem Klumpen auf den Verandastufen lagen. Er ging zu dem blutigen Haufen hin und zwang sich dazu, einen bloßen Finger auf den Kadaver zu legen. Das Fleisch war kalt, aber noch nicht gefroren. Weniger als eine Stunde alt. Wer oder was auch immer diesen Hund zerrissen hatte, lauerte möglicherweise noch irgendwo in der Nähe.
    Das gedämpfte Klirren zerbrechenden Glases ließ ihn herumwirbeln; sein Herz hämmerte gegen seinen Brustkorb. Das Geräusch war aus dem Inneren des Hauses gekommen. Er blickte zu den dunklen Fenstern auf. Fünf Menschen wohnten hier, darunter ein vierzehnjähriges Mädchen. Was war mit ihnen geschehen?
    Er stieg die Stufen hinauf und ging zur Haustür. Sie war unverschlossen – ein weiteres beunruhigendes Detail. Er drehte den Knauf und öffnete vorsichtig die Tür. Ein rascher Schwenk der Taschenlampe ließ einen verschlissenen Läufer und mehrere Paar Schuhe erkennen, die in der Diele herumlagen. Nichts Bedrohliches. Er drehte am Lichtschalter. Kein Licht. Hatte jemand den Strom abgestellt?
    Einen Augenblick lang blieb er in der Nähe der Haustür stehen, unsicher, ob er seine Anwesenheit kundtun sollte. Er wußte, daß Jack Reid eine Schrotflinte besaß, und der Mann würde nicht zögern, davon Gebrauch zu machen, wenn er glaubte, daß ein Eindringling im Haus war. Lincoln holte Luft und wollte eben »Polizei!« rufen, als sein Blick auf etwas fiel, das ihm augenblicklich die Sprache verschlug.
    An der Wand war ein blutiger Handabdruck.
    Die Pistole in seiner Hand fühlte sich plötzlich schlüpfrig an. Er näherte sich dem Abdruck. Bei genauerem Hinsehen war zu erkennen, daß es sich tatsächlich um Blut handelte – und es gab noch mehr davon. Die Spuren führten in die Küche.
    Fünf Menschen leben in diesem Haus. Wo sind sie?
    Er trat in die Küche, und dort fand er das erste Familienmitglied. Jack Reid lag ausgestreckt am Boden; seine Kehle war von Ohr zu Ohr aufgeschlitzt. Das Blut, das aus seinen Arterien geschossen war, hatte alle vier Wände der Küche bespritzt. Er hielt die Schrotflinte noch in der Hand.
    Ein Poltern ertönte, etwas rollte über den Fußboden. Sofort riß Lincoln die Waffe hoch; der Puls dröhnte in seinen Ohren. Das Geräusch war von unten gekommen. Aus dem Keller.
    Seine Lungen arbeiteten wie Blasebälge, pumpten die Luft in raschen, heftigen Stößen. Er schlich sich zur Kellertür, blieb stehen, um lautlos bis drei zu zählen. Sein Herz raste immer schneller, seine verschwitzten Finger umklammerten die Pistole wie ein Schraubstock. Er holte noch einmal Luft, dann trat er mit aller Kraft gegen die Tür.
    Sie flog auf und krachte gegen die Wand.
    Treppenstufen senkten sich hinab in die Dunkelheit. Da unten war etwas. Die Schwärze schien angefüllt mit einer fremden Energie. Er konnte förmlich riechen, daß irgendwo am Fuß der Treppe etwas lauerte. Er richtete den Strahl der Taschenlampe nach unten, leuchtete mit einem schnellen Schwenk den Keller aus. Eine flüchtige Bewegung war alles, was er sah; ein Schatten, der lautlos unter die Treppe glitt.
    »Polizei!« rief Lincoln. »Kommen Sie raus, damit ich Sie sehen kann!« Er richtete die Taschenlampe auf den Fuß der Treppe, dorthin, wo auch seine Waffe hinzielte. »Los, machen Sie schon. Raus mit Ihnen, und zwar sofort! «
    Ganz allmählich gerann die Dunkelheit zu einer
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