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Trügerische Ruhe

Trügerische Ruhe

Titel: Trügerische Ruhe
Autoren: Tess Gerritsen
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Toastkrümeln. Er aß, ohne sie anzusehen, als ob er der Medusa ins Auge schauen würde, wenn er ihren Blick erwiderte. Und was würde es für einen Unterschied machen, wenn er mich ansähe, dachte sie mit bitterer Ironie. Mein lieber Sohn ist ja schon zu Stein geworden.
    Sie sagte erneut: »Ich fahre dich zur Schule, Noah.«
    »Ist schon gut. Ich nehme den Bus.« Er stand auf und schnappte sich seinen Rucksack und sein Skateboard.
    »Diese Jäger da draußen können unmöglich sehen, auf was sie schießen. Zieh wenigstens die orangene Mütze an. Damit sie dich nicht für einen Hirsch halten.«
    »Aber die sieht so bescheuert aus!«
    »Du kannst sie ja im Bus abnehmen. Aber zieh sie jetzt an.«
    Sie nahm die gestrickte Mütze von der Garderobe und hielt sie ihm hin.
    Er sah zuerst die Mütze an, dann schließlich auch sie. Er war in nur einem Jahr etliche Zentimeter in die Höhe geschossen, und sie waren nun gleich groß; ihre Blicke trafen sich direkt, keine Seite hatte einen Vorteil. Sie fragte sich, ob sich Noah ihrer neuen physischen Gleichberechtigung so deutlich bewußt war wie sie selbst. Früher hatte sie ihn im Arm halten können, und ein Kind hatte die Umarmung erwidert. Jetzt war das Kind verschwunden; seine Zartheit in neue, muskulöse Formen gegossen; sein Gesicht verschmälert zu ungewohnter Scharfkantigkeit.
    »Bitte«, sagte sie, während sie ihm die Mütze immer noch hinhielt.
    Schließlich stülpte er sich die Kopfbedeckung mit einem Stöhnen über seine dunklen Haare. Sie mußte ein Lächeln unterdrücken – er sah wirklich bescheuert aus.
    Er war schon auf dem Weg zur Haustür, als sie ihm zurief: »Abschiedskuß?«
    Mit dem Ausdruck der Verzweiflung wandte er sich noch einmal um und gab ihr einen äußerst flüchtigen Kuß auf die Wange; dann war er auch schon draußen.
    Keine Umarmungen mehr, dachte sie betrübt, als sie am Fenster stand und ihn beobachtete, wie er in Richtung Straße trottete. Nur noch Gebrummel und Achselzucken und betretenes Schweigen.
    Unter dem Ahorn am Ende der Zufahrt blieb er stehen, zog die Mütze ab und stand mit den Händen in den Hosentaschen da, die Schultern gegen die Kälte hochgezogen. Keine Jacke, nur ein dünnes graues Sweatshirt als Schutz gegen eine Morgentemperatur von drei Grad. Es war cool, zu frieren. Sie mußte dem Drang widerstehen, nach draußen zu laufen und ihn in einen Mantel zu packen.
    Claire wartete, bis der Schulbus kam. Sie sah zu, wie er einstieg, ohne sich noch einmal umzudrehen, sah seine Silhouette, als er den Mittelgang entlangging und sich auf einen der freien Plätze setzte, neben ein Mädchen. Wer ist dieses Mädchen? fragte sie sich. Ich kenne nicht einmal mehr die Namen der Freunde meines Sohnes. Ich bin zu einem kleinen Winkel seines Universums zusammengeschrumpft. Sie wußte, daß all dies ein notwendiger Prozeß war – das Sichzurückziehen, der Kampf des Kindes um seine Unabhängigkeit –, aber sie war nicht darauf vorbereitet. Die Verwandlung hatte sich so plötzlich vollzogen, als ob ein lieber kleiner Junge eines Tages das Haus verlassen hätte und statt seiner ein Fremder zurückgekommen wäre. Du bist alles, was mir von Peter geblieben ist. Ich bin nicht bereit, auch noch dich zu verlieren.
    Der Bus rumpelte davon.
    Claire ging in die Küche zurück und setzte sich hin, um ihren lauwarmen Kaffee zu trinken. Das Haus wirkte leer und still: immer noch ein Trauerhaus. Sie seufzte und breitete die wöchentliche Tranquility Gazette vor sich aus. GESUNDES ROTWILDRUDEL VERSPRICHT REICHLICHE ERNTE, verkündete die Titelseite. Die Jagd war eröffnet. Dreißig Tage Zeit, um sich sein Wildbret zu sichern.
    Draußen hallte wieder ein Gewehrschuß durch die Wälder.
    Sie schlug die Seite mit dem Polizeiregister auf. Über die Halloween-Krawalle der letzten Nacht stand noch nichts darin, auch nicht über die sieben Teenager, die verhaftet worden waren, weil sie bei ihrem traditionellen Beutezug durch die Gemeinde zu weit gegangen waren. Doch da, versteckt zwischen den Berichten über entlaufene Hunde und gestohlenes Brennholz, war ihr Name, unter der Rubrik ÜBERTRETUNGEN: »Claire Elliot, 40; Führen eines Kraftfahrzeugs mit abgelaufener Sicherheitsplakette.« Sie hatte den Subaru immer noch nicht zur Inspektion gebracht; heute würde sie statt dessen den Transporter nehmen müssen, um eine neuerliche Erwähnung zu vermeiden. Gereizt blätterte sie um und studierte gerade die Wettervorhersage – kalt und windig, Höchstwerte knapp
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