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Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition)

Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition)

Titel: Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition)
Autoren: Daniil Charms
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»psychologischen« Theater – mit seiner subjektiven Innerlichkeit – das plakative farbenfrohe »Schaubudentheater« entgegengesetzt. Den Elfenbeinturm des l’art pour l’art – mit seinen kultivierten vieldeutigen Anklängen – rammte der Ruf nach maximaler Offenheit und Direktheit: »Seht euch einen Gegenstand mit nackten Augen an, und ihr erblickt ihn zum ersten Mal bereinigt vom überholten literarischen Glitter«, heißt es in der 1928 entstandenen Deklaration der Oberiuten. Dort begrüßen sie auch ausdrücklich die Forderung nach einer Kunst, »die jedermann, sogar einem Dorfschüler, in ihren Formen zugänglich ist«, und warnen lediglich davor, diese Forderung zu verabsolutieren. Und Wladimir Majakowski, mit dem Charms zusammenarbeiten wollte, schreibt noch im selben Jahr: »Wenn ein Buch für Wenige bestimmt ist, nur um ausschließlich ein Konsumobjekt dieser Wenigen zu sein und darüber hinaus keine Funktionen mehr hat, dann brauchen wir es nicht. […] Wenn ein Buch für Wenige bestimmt ist, wie der Strom von Wolchowstroj, der an weitere wenige Unterstationen weitergeleitet wird, damit sie den verarbeiteten Strom in elektrische Glühbirnen einfließen lassen, dann brauchen wir ein solches Buch.« – Es ist der schöpferische Impuls, um den es all diesen Künstlern geht. Und der lässt sich nur energetisch begreifen und nicht auf dem Umweg über Nachschlagewerke.
    Darum will die vorliegende Edition Charms nicht als ein linguistisches Phänomen für Insider, sondern als einen Sprachartisten vorstellen, dessen Wurzeln in der russischen Avantgarde liegen, einer Avantgarde, die alles andere als museal dachte, sondern, ganz im Gegenteil, mit ihrer Kunst auf den Lebensalltag gestalterisch Einfluss nehmen wollte. Der gewählte sprachartistische Ansatz schlägt sich in den Übersetzungen nieder: Das Ziel war es, im Deutschen eine Sprache zu finden, die dem Charms’schen Werk angemessen wäre. Sie sollte, ob in Vers oder Prosa, stets lebendig und rhythmisch sein, die spezifischen Redefiguren getreu nachbilden und möglichst ohne Kommentar auskommen, sprich: Aus sich selbst heraus wirken!
    Die Übersetzungen des vorliegenden Bandes stammen alle aus der Feder von Beate Rausch. Sie bestechen nicht nur durch ihren markigen, hart zupackenden Ton, sondern profitieren auch davon, dass die Autorin seit Jahren in St. Petersburg lebt – in einem geografischen und sprachlichen Umfeld also, wo die Charms’schen Texte selbst ihren Ursprung finden. Solch eine Nähe zum russischen Alltag ermöglicht es ihr, gewisse Feinheiten jenes Jargons zu verstehen, den der Dichter durchgehend benutzt: Denn seine Erzählungen bewegen sich permanent im allgemeinen Leningrader Slang. Und wie immer bei der Idiomatik, wirdzwischen den Wörtern mehr gesagt als mit den Wörtern selbst. So kommt es, dass ihre Übersetzungen viele »dunkle Passagen« der älteren lichten, manches zum ersten Mal richtigstellen.
    In der Tat erfuhren Charms’ Werke durch kleinere oder größere Missverständnisse im Deutschen teils skurrile Metamorphosen, wobei allzu offene Widersprüche offenbar mit der »Absurdität« der Texte erklärt wurden. Solche Missverständnisse pflanzten sich von einem Buch zum nächsten fort und auch von einem Übersetzer zum anderen.
    Hier nur ein paar Beispiele: Im Roman »Die Alte« sagt der geplagte Ich-Erzähler: »Pokojniki … – narod nevažnyj«. Ilse Tschörtner übersetzt in »Zwischenfällen« (Berlin, 1990) den Satz mit: »Leichen … sind unsichere Kantonisten« und Peter Urban in seinen »Fällen« (Berlin, 2002): »Die Toten … sind ein unseriöses Volk«. Warum die Entschlafenen jedesmal auf so merkwürdige Weise tituliert werden, bleibt ein Rätsel. Aber der verwendete Ausdruck »nevažnyj« (»unwichtig«) wird hier überhaupt nicht in dem bizarren Sinne verwendet, als sei auf die Toten kein Verlass, sondern in der umgangssprach lichen Bedeutung von »übel«! In der Fassung von Beate Rausch lautet die Stelle denn auch ganz schlicht: »Verstorbene … sind ungute Leute«.
    Der vielleicht kurioseste Fall von Missverstehen ist aber die folgende Stelle aus den »Vorfällen«: In den »Anekdoten aus dem Leben Puschkins« sagt Schukowski zum Letzteren auf Russisch: »Da nikako ty pisaka!« Dieser gereimte und ulkige Satz, der die altertümliche Sprache auf die Schippe nimmt und unterschwellig sogar mit fäkalen Anklängen spielt, drückt eindeutig ironisches Staunen und Bewunderung für den dichtenden Kollegen
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