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Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition)

Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition)

Titel: Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition)
Autoren: Daniil Charms
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(»Ež«) und »Zeisig« (»   ˇ
C iž«) mit Charms zusammengearbeitet hatten. Er betätigte sich als Rezitator und nahm Kinderverse von Charms auf Schallplatten auf. Schließlich war er es, der – ein weiteres Wunder! – 1996 Marina Malitsch (später Durnowo), die Witwe des Dichters, in Venezuela ausfindig machte und ihre Erinnerungen, ein unschätzbares Zeugnis über den Dichter, niederschrieb. Und es gehört ebenfalls zu seinen Verdiensten, mitten in einer Ära zahlloser Raubdrucke und kommerzieller Ausbeutung ungeschützter Kunst, die Urheberrechte der Erben von Charms und Alexander Wwedenski geklärt und geltend gemacht zu haben. – Alles in allem wurde Charms zu einem wichtigen Teil seines Lebens, was sich auch in der vorliegenden Auswahl spiegelt: Sie ist bewusst nicht chronologisch gehalten, weil Chronologie bei der Präsentation eines so zerfaserten Gesamtwerks Ordnung vortäuscht, wo gar keine herrscht. (Auch Charms selbst, wie wir am Beispiel der »Vorfälle« sehen, stellt seine Texte ja keineswegs chronologisch zusammen.)
    Welches Charms-Bild liegt unserer Edition zugrunde? – Nun, hier begegnen wir einem letzten Wunder an Seltsamkeiten und Permutationen, die dem Autor postum widerfahren sind: Die Rede ist davon, wie eine derart bunte und in kein Raster passende Persönlichkeit im Laufe der Jahre zu einer in universitäres Formalin eingelegten Spezies werden konnte, die nur noch mit Hilfe von philologischen Spektralanalysen und durch lexikalische Mikroskope zu beschauen ist! Aber Charms ist kein literaturhistorischer Diskurs, kein intertextuelles Glasperlenspiel für Eingeweihte. Trotz seiner enormen Belesenheit und des Hangs zum Klassifizieren lag ihm jeglicher Akademismus vollkommen fern! Das ging so weit, dass er in einem Brief an den von ihm hochgeschätzten Literaturwissenschaftler Nikolai Chardschijew versucht, diesen von der Literaturwissenschaft abzubringen: »Ich wende mich an Sie mit dem Gesuch: Schreiben Sie bitte, aber keine Briefe oder Artikel über Chlebnikow, sondern eigene Werke. … Ich weiß, was Sie am Schreiben stört, ist Ihre Beziehung zur Literatur. Das ist sehr traurig. … Es gibt Sammler von Büchern, das sind Bibliophile; es gibt Sammler von Geld, das sind die Reichen; und es gibt Sammler ihrer eigenen Werke, das sind schreibwütige Dilettanten oder Genies. Werden Sie zum Sammler Ihrer eigenen Werke.« Und Jewgeni Schwarz, ein Freund und Schriftstellerkollege von Charms, sagt über die Ober iuten: »Sie verabscheuten alles, was Literatur geworden ist. Sie waren Genies, wie sie selbst spaßeshalber verkündeten. Und nicht nur spaßeshalber.«
    Und dennoch errichten manche ältere Übersetzungen, insbesondere die von Peter Urban, zwischen dem Charms’schen Text und dem an sich doch mündigen Leser eine dicke Mauer – beginnend mit der quasi wissenschaft lichen Transkription der russischen Wörter, welche die Kenntnis der komplexen Ausspracheregeln voraussetzt, und endend mit zahllosen Erläuterungen, die das Verstehen nicht fördern, sondern eher zuschütten, weil sie kaum etwas mit den Personen und den Handlungen der jeweiligen Geschichten zu tun haben. Vieles davon ist zudem höchst willkürlich, um nicht zu sagen abenteuerlich – wenn etwa russische Namen akribisch auf ihre Wortstämme hin untersucht werden, die oft nicht einmal annähernd stimmen! *
    Nirgends in Charms’ theoretischen Schriften wird eine solche Exegese verlangt. Mehr noch: Sie ist dem Dichter zutiefst fremd. Stattdessen ist von der inneren Kraft die Rede, die im Wort stecke und befreit werden müsse: »Es gibt gewisse Wortkombinationen«, schreibt Charms, »welche die Wirkung der Kraft spürbarer machen. Die wertvollste Wirkung der Kraft entzieht sich freilich beinahe der Definition. Es gehört sich nicht zu glauben, dass diese Kraft in der Lage ist, Objekte zu bewegen, und doch bin ich überzeugt davon, dass die Kraft der Worte auch dies vermag.« Zwar verleiht Charms seinem ersten (niemals erschienenen) Gedichtband »Die Lenkung der Dinge« den Untertitel »Schwer zugängliche Verse«, doch birgt sich eben darin eine Pointe, denn die schwere Zugänglichkeit ergibt sich nicht aus der Beschaffenheit der Verse, sondern, wie er im Entwurf des Vorworts sagt, aus der Tat sache, dass der Leser niemals Gelegenheit hatte, sie zuvor kennenzulernen …
    Gerade die »linken« Avantgarden, wie Futurismus, Imaginismus oder OBERIU , strebten aggressiv Wirkungen an. – So wurde dem Tschechow’schen
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