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Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition)

Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition)

Titel: Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition)
Autoren: Daniil Charms
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verborgenen Sehnsüchten und offenen Wirkungen. Mit Hilfe einfacher Wiederholungen erschafft sie eine Erwartungshaltung und lenkt die Konzentration des Zuschauers in eine ganz bestimmte Richtung. Umso größer ist die Überraschung, wenn die Erwartung am Ende durchkreuzt und zugleich ja doch wieder bestätigt wird.
    Jeder Zauberkünstler weiß, dass die Anzahl der magischen Grundeffekte sehr klein ist: Das Erscheinen, das Verschwinden, das Wandern, das Verwandeln (wobei die Objekte ihre Größe, Farbe oder sogar Form verändern können), das Durchdringen, das Wiederherstellen, das Aufheben der Naturgesetze (wie Bewegen unbelebter Gegenstände) und die Demonstration der Gedankenkräfte (wie Telepathie, Voraussage, Beeinflussung, Mnemotechnik, Telekinese etc.). Was sich ändert, ist lediglich das äußere Gewand. Für den reinen Effekt ist es hingegen egal, ob ein Elefant auf der Bühne oder ein Tuch in der Hand des Vorführenden auftaucht.
    Alle hier aufgezählten Wirkungen finden sich auch in Charms’ Geschichten: Personen und Gegenstände erscheinen oder lösen sich spurlos in Luft auf. Menschen und Dinge verwandeln sich ständig oder verdoppeln und verdreifachen sich. Abläufe wiederholen sich oder finden auf eine Weise statt, die den normalen Verhältnissen widerspricht. Tote Objekte werden lebendig, während lebende Subjekte in Einzelteile zerbröckeln. Oft genug wird die Schwerkraft aufgehoben. – Nichts ist so, wie es vorgibt zu sein. Alles erweist sich als fragwürdig. Hinter allen Phänomenen gähnt gleichsam ein schwarzes Loch – nicht im Sinne des Nihilismus, vielmehr im Sinne der Mystik und der für sie so charakteristischen »negativen Theologie«, die dem Göttlichen jegliche Eigenschaften abspricht, letzten Endes auch die des Seins. Charms, der großes Interesse für die christlich-orthodoxe Praxis der Meditation (Hesychasmus) hegte und sich mit ähnlichen Tendenzen in anderen Traditionen beschäftigte (wie etwa der jüdischen Kabbala oder dem indischen Hatha-Yoga), glaubte fest an einen unbeweglichen transzendenten Urgrund, angesichts dessen alle Erscheinungen als ephemer und illusorisch gelten dürfen. Diese Transparenz des Irdischen führte ihn, wie einige Jahre davor auch Franz Kafka, zur Erfahrung des Absurden, das – je nachdem, von welchem Winkel aus es betrachtet wird – sowohl tragisch als auch komisch wirken kann. Tragisch, da nichts von Dauer ist, komisch wegen der schier unerschöpflichen und unabsehbaren Vielzahl der Metamorphosen, welche die Dinge durchlaufen können.
    Es ist diese Ahnung des transzendenten Urgrunds, die auf Wunder hoffen lässt. Somit wäre ein Zaubertrick keine Täuschung (jedenfalls keine größere als die sogenannten »wirk lichen« Dinge), sondern das Hinbewegen eines Menschen auf das Wunder zu, gewissermaßen der Vorgeschmack des Wunders. Nun, die Charms’schen Geschichten sind solche Zaubertricks, sind solch ein Vorgeschmack des Wunders. Sie beginnen fast immer mitten im Alltag, in banalen Situationen, unter gewöhnlichen Leuten. Doch dann kommt es zu einer geringen Verrückung, und auf einmal klafft in dem uns vertrauten Raum-und-Zeit-Konnex ein unerklärlicher, gleichsam nicht hiesiger Spalt, vor dem die Existenz ihren Sinn verliert. Es fällt auf, wie einfach die Geschichten im Grunde gestrickt sind – so einfach, dass es zuweilen scheint, das Prinzip habe sich schon beinahe erschöpft. Und doch findet der Autor – mit derselben Leichtigkeit wie zuvor – stets neue Ausgangspunkte.
    Kein Zufall, dass Charms und einige seiner Freunde (darunter die Dichter Alexander Wwedenski, Leonid Lipawski, Nikolai Sabolotzki und der Philosoph Jakow Druskin) einen kleinen Kreis bildeten, der sicheinigermaßen obskur »Tschinari« nannte (in dem exotisch anmutenden Wort schwingt das Russische »
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cin« = »Amt, Würde«, »
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cinit’« = »reparieren« oder in der alten Bedeutung von »erschaffen«, aber auch »
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cinariki« = »Zigarettenkippen« mit), wo regelmäßig über die »parallelen Welten« nachgedacht wurde, welche in unsere Erdenwelt »Boten« entsenden. Und dass die Gesetze jener Parallelwelten nicht mit denen unserer kongruent sind, zeigt Charms auf beklemmende Weise in seiner Erzählung »Wie ich einmal von den Boten besucht wurde«. In einem Notizblock vermerkt er: »Der Bote – das bin ich«.
    Als Charms seine literarische Tätigkeit 1923/24 begann, sah er sich zunächst einmal als Lyriker. Schließlich sind Gedichte besser dazu geeignet, wie
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