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Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition)

Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition)

Titel: Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition)
Autoren: Daniil Charms
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kleine Zaubertricks zu wirken. (Ein frühes Gedicht heißt sogar »Zaubertricks«.) Ihr rhythmisches Pulsieren, ihre Bilderwelten erschaffen schneller und unmittelbarer jene Atmosphäre des Magischen. Und durch metrische Stolpersteine und die Einführung selbstgeschaffener Fantasiewörter lassen sich überraschende Effekte erzeugen. Außerdem sind Verse zum artistischen Rezitieren gut, und darin war Charms ein großer Könner.
    Etwas später erwuchs sein Interesse fürs Theater. So wird Charms in der 1928 verfassten Deklaration des von ihm mitbegründeten Zirkels OBERIU (»Vereinigung für reale Kunst«) als »Dichter und Dramatiker« genannt, »dessen Aufmerksamkeit nicht auf die statische Figur gerichtet ist, sondern auf den Zusammenstoß einer Reihe von Gegenständen, auf deren Beziehungen untereinander«.
    Im selben Jahr fing er endlich an, Texte zu schreiben, auf welche die Bezeichnung »Prosa« noch am ehesten zutrifft. Zwar sind auch sie noch stark dialogisch, doch kommt hier bereits eine narrative Linie hinzu, die in seinen frühen avantgardistischen Experimenten noch gänzlich fehlt. Diese narrative Linie entwickelt sich nun über die nächsten zehn Jahre und erreicht ihren Höhepunkt in dem kurzen Roman »Die Alte«, in dem der Charakter des Halbimprovisierten überwunden wird und jedes auch noch so kleine Detail sich als kalkuliert und bedeutungsträchtig erweist. Dabei gelingt es Charms, einen sehr eigenen Stil zu finden, welcher in seiner Plastizität und Lakonie kaum nachzuahmen ist. (In den 1970er Jahren etwa gab es einen Versuch der Journalisten Natalja Dobrochotowa und Wladimir Pjatnitzki, unter dem Namen »Charms« dessen »Anekdoten aus dem Leben Puschkins« fortzusetzen. Doch trotz des in solchen Falsifikationen allenthalben herrschenden »Nonsens« fehlt es ihnen an etwas Wesentlichem, das sich kaum formulieren unddennoch deutlich fühlen lässt.) Pate für Charms’ Erzählweise stehen zum Beispiel Nikolai Gogol mit seinen grellen Beschreibungen, Fjodor Dostojewski mit seinen Psychogrammen der Personen und vor allem Knut Hamsun mit seiner latenten trockenen Ironie und der Vorliebe für absurde Konstellationen.
    Es ist erstaunlich, wie viele Elemente Charms aus der Dichtung und der Dramatik in die Prosa aufnimmt: Aus der Dichtung die zyklische Form als äußere Erzählklammer, Parallelismen und diverse Figuren der Wiederholung, schließlich den Gebrauch von Neologismen – ganz im Sinne der vom Futuristen Welimir Chlebnikow definierten »transrationalen« zaum’ – Poesie. Aus der Dramatik die Charakterisierung der Gestalten über ihre Handlungen, pointierte und gestische Gespräche und die Kenntnis der inneren Motivation. Darum lassen sich seine Geschichten wie Gedichte leicht auswendig lernen und vortragen und auch ohne großen Aufwand für die Bühne bearbeiten und aufführen, denn das Lyrische und das Theatralische sind der Stoff, aus dem sie gemacht sind. Möglicherweise ist dies der Grund dafür, warum Charms in seinem zu Lebzeiten zusammengestellten Bändchen »Vorfälle« die Gattungen nicht von einander trennt: Verse, Szenen und kurze Erzählungen wechseln sich ab in buntem Reigen.
    Auch die meisten Herausgeber der Charms’schen Werke verhalten sich ähnlich und drucken zumindest die kurzen Dramen und Prosatexte stets zusammen ab. – Unsere Edition ist diesem Brauch nicht gefolgt: Bis auf die Zyklen »Vorfälle« und »Das himmelblaue Heft« (deren Komposition, da vom Autor beabsichtigt, unverändert blieb), wurde zwischen den einzelnen Genres – so gut es nur ging – unterschieden und auf die vier Bände verteilt: Der erste Band enthält somit die wichtigsten Erzählungen und den Roman. Der zweite Band über zweihundert Gedichte. Der dritte Band Dramen und Szenen. Und der vierte Briefe, Tagebucheintragungen und philosophische Traktate. Die Konzeption und die Auswahl lagen zunächst in den Händen von Vladimir Glozer, einem subtilen Kenner der Charms’schen Texte. Nach seinem Tod im April 2009 übernahm ich die Arbeit und setzte sie fort.
    Glozers Beziehung zu Charms’ Werken war, trotz seiner literaturwissenschaftlichen Tätigkeit, weniger akademisch als vielmehr persönlich. Sein Wissen über die Oberiuten stammt nicht aus Büchern, sondern aus direktem Kontakt mit deren ehemaligen Freunden und Kollegen. Jahrelang war er Privatsekretär der Kinderbuchautoren Samuil Marschak und Kornej Tschukowski, die beide Anfang der 1930er Jahre in denRedaktionen der Zeitschriften »Igel«
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