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Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition)

Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition)

Titel: Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition)
Autoren: Daniil Charms
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unbedeutend: nur fünf der rund vierzig Notizbücher. Offenbar hatten die Beamten diese für Kritzeleien eines Geistesgestörten gehalten, denn es war eine Überlebensstrategie von Charms gewesen, den Behörden gegenüber Schizophrenie vorzutäuschen.
    Ein weiteres Wunder ist die Beschaffenheit des geretteten Werks – vor allem ein Wunder an
Undurchschaubarkeit.
Die verstreuten Blätter,Hefte und Notizbücher beinhalten ein gigantisches Œuvre im vollkommen labyrinthischen Zustand. Jeder Versuch, es als Ganzes zu publizieren (und davon gab es bisher zwei: die im Jahr 1978 begonnene und aufgrund von staatlichen Repressalien abgebrochene Werkausgabe von Michail Mejlach und Wladimir Erl und die von Waleri Saschin 1997– 2002 besorgte Gesamtedition) gleicht von vornherein der Entschlüsselung eines komplizierten Zahlenrätsels und ist mit erheblichen Problemen behaftet. Die Hauptschwierigkeit besteht in der Formulierung angemessener herausgeberischer Kriterien, wie Gliederung nach einzelnen Genres und Kennzeichnung jeweiliger Varianten und Streichungen. – Welche Texte dürfen zum Beispiel mit vollem Recht als Prosa, Gedicht, Drama oder Tagebucheintrag betrachtet werden? Inwiefern sind sie überhaupt abgeschlossen? Wie geht man mit den zahlreichen orthografischen Fehlern um – sind sie ein Zeichen von Unachtsamkeit oder künstlerische Absicht? Was hielt Charms von all dem für veröffentlichungswürdig?
    Gerade auch diese letzte Frage muss wohl unbeantwortbar bleiben, denn außer seiner Kindergeschichten und – verse konnte der Autor zu Lebzeiten nur zwei »Erwachsenen«-Gedichte abdrucken. Der gesamte Rest existiert nur in Handschriften. Spätestens zum Anfang der 1930er Jahre wird sich Charms mit der Unmöglichkeit der Publikation seiner Werke abgefunden haben – was den teils spielerischen, teils laxen Umgang mit ihnen erklärt. Und doch erwachte in ihm gelegentlich der literarische Ehrgeiz und Ordnungswille, so dass er einzelne Texte zu kleinen Zyklen gewissermaßen in Reinschrift zusammenstellte (wie etwa die berühmten »Vorfälle«), denen somit ein besonderer Platz zukommt.
    Aber das größte Wunder sind immer noch die Texte selbst. Der Leser möge dieses Wort hier nicht im Sinne eines schwammigen Lobs verstehen. Vielmehr gehört die Idee des Wunderbaren zum eigentlichen Wesen der Charms’schen Werke. (»Das Wunder« lautet denn auch der – im Original deutsche – Titel einer seiner frühesten Zeichnung, die einen sonderlichen Mann zeigt, welcher dabei ist, etwas Sonderliches zu betrachten.) Wie im Leben so auch in der Kunst bemühte sich Charms permanent darum, andere zu verblüffen. (Heutzutage würde man ihn vielleicht einen Aktionskünstler nennen.) Im Leben tat er dies auf den unterschiedlichsten Ebenen: Er färbte sein Gesicht, kleidete sich grotesk (zum Beispiel als Sherlock Holmes, oder er trug einen Schnuller um den Hals), er umgab sich mit ungewöhnlichen Objekten (die Wände seines Zimmers waren mit mysteriösen Diagrammen überklebt und vonder Decke herab hingen »selbsterfundene« Geräte ohne ersichtliche Funktion), er verwendete zahllose Pseudonyme (Charms, Schardam, Dandan, Kolpakow etc.), er gab auch anderen ausgefallene Namen (so hießen seine beiden Dackel »Brandenburger Konzert« und »Gedenke der Schlacht bei den Thermopylen«), er machte die seltsamsten Dinge (noch als Schüler spielte er mitten im Unterricht Waldhorn, saß als Erwachsener stundenlang auf Bäumen und wedelte dabei mit bunten Fähnchen und weckte seine Frau in der Nacht auf, um vermeintliche Ratten zu jagen), außerdem zauberte er virtuos (mit Billardbällen und kleinen Alltagsgegenständen).
    Dieser letzte Punkt verdient Beachtung: Charms’ Beschäftigung mit der Zauberkunst war mehr als nur ein beiläufiges Hobby – es war eine regelrechte Passion. Stundenlang übte er zu Hause. Gern untermalte er die Rezitation eigener Gedichte mit lustigen Tricks. Dabei gelang es ihm, wie Zeugen berichten, die Anwesenden in Bann zu schlagen. Ob es Kunststücke oder echte Magie gewesen war, diese Frage ließ er bewusst offen, so dass ihn stets eine Aura des Geheimnisvollen umgab. Sein gleichzeitiges Interesse für mystische und okkulte Lehren verstärkte diesen Eindruck noch.
    Es gibt in der Tat nur wenig Bereiche, wo sich menschliche Reaktionen so gründlich studieren lassen wie in der Zauberkunst: Ihr Fundament ist die heimliche Hoffnung, dass echte Wunder möglich sind. Sie beruht auf einer subtilen Verflechtung von
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