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Triestiner Morgen

Triestiner Morgen

Titel: Triestiner Morgen
Autoren: Edith Kneifl
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Schlagtechnik. An seinen besten Tagen zählte er an die hundert Leichen. Aber am nächsten Morgen kehrten sie wieder, ein einziger schwarzer Fliegenschwarm. Irgendwann gab er sich geschlagen.
    Im ersten Sommer, den Enrico in dieser Zelle verbrachte, schrieb er ein Gesuch an die Gefängnisleitung, indem er darum bat, wenigstens zweimal in der Woche duschen und die Wäsche wechseln zu dürfen. Er erhielt keine Antwort.
    San Stefano glich einer überdimensionalen Fabrik. Den Gefangenen standen sechsunddreißig Werkstätten und Betriebe zur Verfügung. Der Tag begann für sie um halb acht Uhr morgens. Für Enrico bedeutete dies keine allzu große Umstellung. Auch draußen war er täglich um halb acht aufgestanden. Nach dem Frühstück, das aus einer Schale wäßrigem Kaffee und staubtrockenem, zwiebackähnlichem Gebäck bestand, begaben sich die Häftlinge in ihre Betriebe. Gearbeitet wurde bis fünf Uhr nachmittags, danach standen die Maschinen in den Werkhallen still. Tischler, Mechaniker, Drucker und Buchbinder kehrten wieder in ihre Zellen zurück. Manche spielten abends Tischtennis, andere sahen fern. Enrico las sich quer durch die Gefängnisbibliothek.
    Die Samstage brachten immer etwas Abwechslung. Samstag war Besuchstag. Außer von seinem Anwalt bekam Enrico in all den Jahren nie Besuch. Samstag war aber auch der Tag der großen Fußballspiele. Und samstags wurden sie in den Duschraum geführt und erhielten frische Wäsche. Enrico liebte Fußball und frische Wäsche.
    Sonntags wurde um acht ›geöffnet‹. Um neun Uhr vormittags stand ›Bewegung im Freien‹ auf dem Programm, auch im Winter, bei Regen und Kälte. Und um zwölf Uhr mittags, gleich nach dem Gottesdienst, wurden die Zellen wieder geschlossen. Das bedeutete an Sonntagen zwölf Stunden in der Zelle, auf einem Lebensraum von durchschnittlich drei Quadratmetern pro Person. Enrico verbrachte die Sonntage mit Lesen. Meistens las er gleich zwei, drei Bücher gleichzeitig.
    Obwohl er jahrelang einen Schreibtischjob gehabt hatte, gewöhnte er sich rasch an die körperlich anstrengende Arbeit.
    Er war gerade erst dreiunddreißig geworden, als er nach San Stefano verlegt wurde. Als Facharbeiter verdiente er, verglichen mit vielen seiner Mithäftlinge, die einfache Hilfsarbeiten erledigten, nicht schlecht. Anfangs bekam er sechshundert, später sogar tausend Lire pro Stunde. Die Hälfte des Monatslohns mußte er als sogenannte Rücklage abgeben, damit er nach der Entlassung nicht mit leeren Händen dastehen würde. Ein Rückfall wäre dann schon vorprogrammiert, meinten die Psychologen.
    Die steigende Inflation und mehrmalige Abwertung der Lire ließen seine Rücklage im Laufe der Jahre auf eine lächerliche Summe schmelzen. Ein paar Tausender blieben ihm aber für Zigaretten, Zeitungen, sogenannte Genußmittel wie Schokolade und ähnlichen Kram. Zum Glück mochte er keine Süßigkeiten – er hatte sich schon als Kind nicht viel aus Süßem gemacht. Enrico gab sein Geld hauptsächlich für Zigaretten aus. Seine unzähligen Versuche, sich das Rauchen abzugewöhnen, waren alle gescheitert. Nachdem er Robert Musil gelesen hatte, legte er Tabellen an und notierte penibel jede gerauchte Zigarette, so daß er nun wenigstens eine exakte Aufstellung über seinen Zigarettenkonsum hatte.
    Obwohl Enrico gebildet war und ausgezeichnete Manieren hatte, zog ihn keiner zu angenehmeren Aufgaben, wie zum Beispiel leichter Büroarbeit, heran, wie es sonst bei intellektuelleren Häftlingen der Fall war. Aber er beschwerte sich nicht und bat auch nie um Versetzung, er schien sich in der Druckerei wohl zu fühlen. Bücher waren, neben dem Rauchen, seine einzige Leidenschaft. Die Gefängnisbibliothek hatte ihm bald nichts Neues mehr zu bieten. Er mußte seinen Anwalt immer öfter bitten, ihm gute Literatur zu besorgen. Seine Mithäftlinge nannten ihn spöttisch ›die Leseratte‹. Der Gefängnispsychiater bezeichnete seine Liebe zu Büchern als Flucht vor der Realität.
    Angeblich gab es in San Stefano zu wenige Sozialarbeiter und Psychologen. Nur ein alter Psychiater war ständig in der Anstalt anzutreffen. Das dürre Männchen wurde von den Häftlingen nicht ernstgenommen. In den therapeutischen Sitzungen sprach meistens nur er, außerdem erzählte er jedem das gleiche. Es hatte sich herumgesprochen, daß er gern ein Gläschen über den Durst trank. Die Häftlinge machten sich einen Spaß daraus, ihn mit harten Getränken, die sie bei den Wärtern gegen Zigaretten
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