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Triestiner Morgen

Triestiner Morgen

Titel: Triestiner Morgen
Autoren: Edith Kneifl
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bei dieser Vorstellung bekomme ich Magenkrämpfe.
    Er dreht sich zu mir um. Ich schließe schnell die Augen.
    Zärtlich streicht er über meine Hüften, gibt mir einen zarten Schlag auf den Hintern und läßt seine Hand an meinen Schenkeln entlanggleiten.
    Er schüttelt sich, als wäre ihm kalt. Wenn er sich neben mir ausstreckte, könnte er sich an meinem Fleisch wärmen. Aber er bewegt sich nicht, bleibt zitternd auf dem Bett sitzen, das von demselben Blau ist wie der Himmel.
    Seine kalten Lippen nähern sich meinem Körper. Er küßt meine rosigen Backen, küßt sie gierig.
    Ich rühre mich nicht. Gleich wird er mich wecken und sich über mich hermachen, mir dieses kurze, besinnungslose Vergnügen, diese endlosen Sekunden der Ekstase aufzwingen. Mit einem kurzen Blick überzeuge ich mich, daß er dazu fähig wäre – jederzeit bereit, einstweilen noch, solange er jung und kräftig ist.
    Auch wenn ich ihn nicht leidenschaftlich begehre, so biete ich mich ihm, selbst jetzt im Halbschlaf, noch an. Und trotzdem werde ich ihn wieder mit einem anderen Mann betrügen. Dieser Gedanke beruhigt mich. Ist die Liebe nicht ein einziger Betrug? Vor allem ein Selbstbetrug?
    Enrico steht auf, zieht das zerknitterte Hemd und die nicht mehr ganz saubere Hose an, stopft das Hemd in die Hose, streift meinen Körper mit einem letzten, wehmütigen Blick und verläßt das Zimmer.
    Er verzichtet darauf, sich einen Kaffee zu kochen, befürchtet, das Geräusch der Espressomaschine könnte mich wecken. Im Bahnhofscafé gegenüber schmeckt der Espresso nicht schlecht. Auch ich trinke dort fast jeden Morgen meinen Milchkaffee.
    Das Kritzeln eines gespitzten Bleistifts auf Papier. Er hinterläßt mir eine Nachricht, unterzeichnet bestimmt wieder mit einem Herzchen, dann verläßt er, beinahe geräuschlos, die Wohnung.

31. Oktober 1994
    Langsam schließt sich das schwere Eisentor hinter ihm. Zwanzig Jahre und dreizehn Tage unschuldig hinter Gittern. Enrico wurde einen Tag früher aus der Haft entlassen. Sonn- und feiertags entlassen sie niemanden. An diesen Tagen sind die Büros der Gefängnisverwaltung unterbesetzt. Es herrscht akuter Personalmangel.
    Enrico war ein ›Frack‹, ein Lebenslanger. Lebenslange verbrachten im Durchschnitt zwanzig bis zweiundzwanzig Jahre hinter Gefängnismauern, ehe ein Vollzugsgericht bei ordentlicher Haftführung ihrem Entlassungsantrag folgte.
    Er mußte fast die volle Zeit absitzen. Alle seine Ansuchen um Begnadigung wurden abgelehnt. Er hatte vor Jahren zwei Mithäftlinge krankenhausreif geschlagen.
    Zögernd dreht er sich noch einmal um. Die staatliche Strafanstalt thront wie eine mittelalterliche Burg, umgeben von Olivenhainen und braunen Feldern, auf dem sanften Hügel von San Stefano.
    Die riesige Beton- und Stahlkonstruktion ist drei Stockwerke hoch, die Zellen liegen in einer langen Reihe nebeneinander auf den Galerien. Kantinen und Duschen befinden sich im Erdgeschoß. Die Werkstätten und die Büros der Gefängnisverwaltung sind in einem Nebengebäude untergebracht.
    San Stefano gilt als das modernste und sicherste Gefängnis des Landes. Enrico wurde Ende 1976, kurz nach der Eröffnung dieses Renommierbaus, hierher verlegt. Die ersten beiden Jahre seiner Gefangenschaft verbrachte er in einem feuchten Loch in der Nähe von Triest.
    Seine Zelle in dem Triestiner Gefängnis hatte kein Fenster. Er konnte nur auf den Korridor hinaussehen und zu den Zellen gegenüber. Damals war er noch froh gewesen, nicht isoliert zu sein. Er hatte interessante Leute um sich, eine bunte Gesellschaft von Dieben, Zuhältern und Betrügern.
    Gleich zu Anfang, als er erst ein paar Wochen hinter Gittern saß, kam ein Brief von seinem Freund Michele. Die meisten Zeilen waren mit schwarzen Balken bedeckt. Wahrscheinlich hatte der Junge wirres Zeug geschrieben. Enrico hob den Brief dennoch auf, beantwortete ihn sogar ein gutes Jahr später.
    Bald nach seiner Einlieferung begann er einen Fluchtplan zu entwickeln. Eineinhalb Jahre lang arbeitete er mit großer Akribie an seinem Plan. Er schlug die Zeit damit tot. Nach eineinhalb Jahren wurde ihm klar, daß er sich diesen Plan aus dem Kopf schlagen mußte. Allein würde er es niemals schaffen, und seinen ständig wechselnden Zellengenossen wollte er sich nicht anvertrauen. Aber es gab noch eine andere Fluchtmöglichkeit, mit der er sich nun in seinen Träumen beschäftigte. Die Gefängniswärter hatten zwar alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen getroffen, Spiegel, Gürtel, Krawatten
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