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Triestiner Morgen

Triestiner Morgen

Titel: Triestiner Morgen
Autoren: Edith Kneifl
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vergißt er nicht. Enrico beobachtet ihn eine Weile, dann wendet er sich verärgert ab. Paranoid – dieser Trottel von Psychiater hat doch recht gehabt. Ich kenne Tausende Gesichter in Triest, warum sollte mir nicht eines dieser Gesichter zufällig im Bahnhofscafé begegnen?
    Die Kellnerin nähert sich jetzt unaufgefordert dem Tisch der Blonden. »Was darf’s denn sein?«
    »Kaum taucht ein Mann auf ...«, murmelt die gut gekleidete Dame.
    »Wie bitte?«
    Sie wiederholt nicht, was sie soeben gesagt hat.
    Ihr Tischnachbar bestellt ein Bier.
    »Und für mich einen Espresso.«
    Die Kellnerin ringt sich ein schiefes Lächeln ab. »Darf’s etwas zum Kaffee sein, ein Brioche vielleicht?«
    »Nein danke, ich kann jetzt beim besten Willen nichts essen.«
    Über den Lautsprecher werden erneut Zugverspätungen bekanntgegeben.
    »Hat Ihr Zug auch Verspätung?«
    »Hatte. Deswegen habe ich den Cibalia-Express nach Zagreb verpaßt. Jetzt muß ich bis zum Abend die Zeit irgendwie totschlagen.«
    »Wer weiß, ob der Nachtzug bei diesem Wetter überhaupt fahren wird. Angeblich sind die dort unten eingeschneit. Es sieht aus, als würde es auch hier gleich zu schneien beginnen. Schöne Stimmung draußen, wie vor einem Sturm.«
    »Schön nennen Sie das? Ich finde es grauenhaft. In dieser Gegend sind solche Schneemassen doch eher ungewöhnlich. Außerdem haben wir erst November.«
    »Sie sind nicht aus Triest?«
    Sie gibt ihm keine Antwort.
    »Aber Sie sind Italienerin?«
    »Nicht alle, die Italienisch sprechen, sind auch Italiener.«
    »Stimmt. Sie sind ein slawischer Typ, aber Sie könnten natürlich genausogut Deutsche sein. – Verraten Sie mir Ihren Namen?«
    »Wozu? Was bedeuten schon Namen?«
    »Sie sind Deutsche? Oder Österreicherin?«
    Lachend sagt sie: »Geben Sie es auf.«
    »Im Norden soll es angeblich noch viel ärger sein. Alle Züge, die aus Österreich kommen, haben gewaltige Verspätung.«
    »Warten Sie auch auf Ihren Zug?«
    »Nein, ich fahre nicht weg.«
    »Sie holen nur jemanden ab?«
    »Nein.«
    Die Kellnerin bringt Bier und Kaffee.
    »Bitte schön, mein Herr!«
    Sie schweigen beide. Die Frau macht nicht den Eindruck, als sei sie an der Fortsetzung des Gespräches interessiert. Sie starrt ununterbrochen zur Tür.
    Durch die lange Fensterfront sieht man die überdachten Bahnsteige. Vor dem Café versammelt sich eine Gruppe junger Burschen. Unausgeschlafene Gesichter pressen sich gegen die schmutzigen Fensterscheiben. Als die Stimme aus dem Lautsprecher die Zugverspätungen wiederholt, hängen sich die Burschen ihre Rucksäcke um und gehen hinein.
    Der Barkeeper schickt sie zuerst an die Kasse und nimmt dann der Reihe nach ihre Bestellungen auf. Gelangweilt wiederholt er: »Kaffee, Mineralwasser, Orangensaft ...«
    »Würden Sie so freundlich sein und einen Moment auf mein Gepäck achtgeben, mein Koffer steht drüben an der Theke«, bittet die Blonde ihren Tischnachbarn.
    »Selbstverständlich.«
    Ihre Bewegungen sind fahrig, sie stößt sich an der Tischkante. Sein Bierglas schwankt gefährlich. Zerstreut entschuldigt sie sich, legt sich ihren Mantel über die Schultern, klemmt ihre Handtasche unter den Arm und geht auf die Toilette. Wieder zieht sie die Blicke vieler männlichen Gäste auf sich.
    Enrico reiht sich in die lange Schlange vor der Kasse ein, kauft eine Flasche Refosco, bezahlt, ohne zu protestieren, einen weit überhöhten Preis und verläßt das Lokal.
    Vor dem Bahnhofsgebäude stellt er seinen Koffer ab und betrachtet versonnen die Häuserzeile auf der anderen Straßenseite, die graugelben Fassaden, die rot blinkende STOCK Reklame, die Bar und das Restaurant unten im Haus ... Er überquert die Straße.
    › KOSIC ‹ steht nach wie vor über dem Eingang des kleinen Ladens, gleich ums Eck.
    Enrico späht durch die blitzsaubere Fensterscheibe. Computer, Telefonanlagen, Faxgeräte, Kopierer ... Enttäuscht spaziert er den Viale Miramare entlang zurück zum Bahnhofsvorplatz.
    Die ›Piazza della Liberta‹ ist wie ausgestorben. Er vermißt die vielen molligen Frauen in den bunten Pluderhosen und die Männer in den altmodischen, schwarzen Anzügen, die früher tagelang um den Bahnhof herum campierten und auf riesigen Kisten und fest verschnürten Schachteln schliefen, in denen sich ihre wertvolle Beute befand: Bluejeans, Turnschuhe, Zigaretten, Kosmetika, Putzmittel, Femsehapparate und bunte Plastikgewehre, die hier, zum Leidwesen der Kinder, weiterverscherbelt wurden.
    Ein Wochenende in Triest
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