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Triestiner Morgen

Triestiner Morgen

Titel: Triestiner Morgen
Autoren: Edith Kneifl
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eintauschten, zu freundlichen Gutachten zu überreden, die ohnehin keiner las. Ein besonderes Vergnügen bereitete es ihnen, den senilen Doktor abends, unverständliche Worte vor sich hin murmelnd, durch die leeren Gänge wanken zu sehen. Er verließ die Anstalt immer erst spät abends. Wahrscheinlich hätte er am liebsten auch die Nächte im Knast verbracht.
    Die erfolgreichsten Psychologen waren die Wärter. Obwohl Prügelstrafen gesetzlich verboten waren, schlugen sie gern und kräftig zu, wenn sich jemand weigerte, seine Arbeit zu tun oder sein Bett ordentlich zu machen. Sie bezeichneten dies als ›Remotivation‹. Und wenn sie einen Häftling solange mit dem Kopf unter Wasser hielten, bis er keine Luft mehr bekam, dann nannten sie es ›Bewährung‹ oder ›Krisenintervention‹. Es gab in San Stefano keine Deliktverarbeitung, sondern nur Krisenintervention.
    Im letzten Jahr machte eine hübsche, junge Psychologin in San Stefano ihr Praktikum. Die halbe Anstalt war in das ängstliche und unsichere Mädchen, das frisch von der Universität in Mailand kam, verliebt. Wenn sie ihnen Vorträge über Frustration, bedingt durch die Monotonie der Arbeit und des Gefängnisalltags, hielt, lachten sie und meinten, das beste Mittel gegen Frustration wäre immer noch Sex. Nicht nur einmal beklagte sie sich in der Verwaltung über allzu handgreifliche Zuwendungen.
    Enrico interessierte sich weder für die hübsche Psychologin noch für den gutmütigen Anstaltspriester, suchte keinen der beiden je freiwillig auf. Er hielt nichts von dem Geschwafel über Schuldgefühle und zerrüttete familiäre Verhältnisse, und ebensowenig wollte er sich das Gemurmel des Priesters über Buße, Demut und Reue anhören. Eine Zeitlang nahm er allerdings an einer Gesprächstherapiegruppe zur Vergangenheits- und Schuldbewältigung teil. Sein Anwalt hatte gemeint, dies würde ein gutes Argument in den Augen jener sein, die über seine bedingte Entlassung zu entscheiden hätten. In der Gruppe wurden hauptsächlich Probleme besprochen, mit denen man draußen nicht zurechtgekommen war. Enrico schwieg beharrlich. Er hatte draußen keine Probleme gehabt.
    Er war ein Einzelgänger, ein sogenannter Sonderling, aber er wußte sich von Anfang an Respekt zu verschaffen. In San Stefano kämpften zwei rivalisierende Gruppen um die Herrschaft über die übrigen Häftlinge und auch um die Kontrolle über das Wachpersonal. Als Enrico hierher verlegt wurde, versuchten die Anführer der beiden Banden, sich an ihm zu vergreifen. Sie trieben dieses üble Spiel mit jedem Neuling, weigerte sich einer mitzuspielen, standen ihm noch härtere Torturen bevor. Er galt fortan als Freiwild und wurde den anderen zum ›Fraß‹ vorgeworfen. Die ganze Meute durfte dann ihre aufgestauten Aggressionen und sadistischen Bedürfnisse an ihm ausleben, ihn nach Belieben vergewaltigen und terrorisieren. Enrico durchschaute dieses grausame Ritual sehr schnell und spielte die beiden Anführer geschickt gegeneinander aus, ohne einem zu Diensten sein zu müssen. Bei ihrem heldenhaften Zweikampf in der Dusche erklärte er sich bereit, den Schiedsrichter zu mimen. Der Kampf endete mit verunstalteten Gesichtern und verstümmelten Gliedern. Nach drei Wochen auf der Krankenstation des Gefängnisses schienen die beiden Hähne ihren Kampfgeist und auch einen Teil ihrer Geilheit eingebüßt zu haben. In der Gefängnishierarchie spielten sie fortan keine entscheidende Rolle mehr. Die Vergewaltigungen und Messerstechereien hörten deswegen nicht auf, aber Enrico blieb vor weiteren Annäherungsversuchen verschont.
    Sex war im Gefängnis kein Thema, und doch war es Thema Nummer eins. Die Zellen waren, durchaus auch zum Vergnügen der Wärter, mit härtester Pornografie austapeziert. Üppige Frauenbrüste und fleischige Hinterteile, manchmal schon etwas verblichen, erhitzten die auch sonst nicht gerade sanften Gemüter. In Ermangelung weiblicher Körper blühte die Homosexualität. Jahrelang auf engstem Raum zusammengepfercht, getrennt vom anderen Geschlecht, waren alle verrückt nach Sex und Zärtlichkeit.
    Enricos Sexualtrieb schien verkümmert. An den Wänden seiner Zelle hingen keine prallen Frauenkörper. Und er wehrte auch alle homosexuellen Kontaktversuche erfolgreich ab. Anfangs hatte er sich hin und wieder selbst befriedigt, bald gab er auch dieses bescheidene Vergnügen auf. Er träumte nicht einmal mehr von Sex, geriet jedoch immer öfter, scheinbar grundlos, in Wut. Seine Wutausbrüche
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