Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Triestiner Morgen

Triestiner Morgen

Titel: Triestiner Morgen
Autoren: Edith Kneifl
Vom Netzwerk:
waren legendär und trafen den anderen völlig unvorbereitet. Man sah ihm nicht an, daß er innerlich kochte und nahe daran war, einem an die Kehle zu springen. Äußerlich blieb er der kühle, gelassene und sanfte Mann von nebenan.
    Eine Zeitlang hatte der Psychiater geglaubt, er könnte ihm diese plötzlichen Wutausbrüche austreiben oder sie wenigstens unter Kontrolle bringen. Aber der fromme Glaube an seine Kunst stellte sich als verhängnisvoller Irrtum heraus. Enrico blieb auch nach dem speziellen Aggressionsabbau-Training unberechenbar und gefährlich, sowohl für seine Mithäftlinge als auch für das Wachpersonal. Keiner suchte seine Nähe, keiner wollte mit ihm etwas zu tun haben.
    Dino, ein kleiner, drahtiger Sizilianer, der wegen Raubmordes saß, hatte während der ersten Gefängnisjahre Enrico nur aus der Ferne beobachtet – interessiert, aber mit Vorsicht. Wenn man von den anderen für einen zünftigen Kumpel gehalten werden wollte, war es unklug, sich einem Außenseiter wie Enrico aufzudrängen. Als er erfuhr, daß der schweigsame Triestiner bei einem Intelligenztest fast 140 Punkte erreicht hatte, ließ er sich in seine Zelle verlegen.
    Anstatt froh zu sein, endlich mit jemandem reden zu können, war Enrico, der sich inzwischen an die Einsamkeit gewöhnt hatte, entsetzt über die unerwünschte Gesellschaft.
    Dino hatte mit seinen zahlreichen Verwandten einen guten Treffer gemacht. Tanten, Nichten, Cousinen und vor allem seine Mama versorgten ihn nicht nur mit allen Köstlichkeiten seiner Heimat, sondern bestachen auch die Wärter mit so manchen Delikatessen, um für ihren Liebling spezielle Vergünstigungen zu erlangen. Der Sizilianer besaß jedoch nicht nur gute Beziehungen zum Aufsichtspersonal, sondern war auch bei den anderen Häftlingen beliebt. Er galt als schlau und geschickt, als einer, mit dem man sich gut stellen mußte. Für den Raubmord hatte er zwanzig Jahre bekommen, er war überzeugt, nur die Hälfte der Zeit absitzen zu müssen. Und keiner seiner Mithäftlinge zweifelte daran, daß er es schaffen würde, nach zehn Jahren wieder draußen zu sein.
    Enrico beantragte, kurz nachdem Dino bei ihm eingezogen war, seine Verlegung in eine andere Zelle. Sein Gesuch wurde kommentarlos abgelehnt. Er mußte sich weiterhin Dinos Gequatsche anhören. Der Sizilianer redete ununterbrochen, und Enrico hörte zu, jahrelang hörte er einfach nur zu, dann schlug er ihn zusammen.
    Dino hatte ihm zum hundertsten Mal zu erklären versucht, wie man es am geschicktesten anstellte, vorzeitig entlassen zu werden. Enrico hatte ihm wieder einmal scheinbar aufmerksam zugehört. Doch plötzlich, ohne Vorwarnung, holte er aus und gab ihm eine kräftige Ohrfeige. Noch ehe der Sizilianer begriff, was geschehen war, schlug ihn Enrico noch einmal mit der offenen Hand ins Gesicht.
    Dino wich zurück, holte aus und versetzte Enrico mit der Linken einen harten Schlag gegen die Schläfe. Enrico taumelte, ballte die Rechte zur Faust und plazierte einen gekonnten Schwinger auf Dinos Magen. Der Sizilianer krümmte sich vor Schmerzen und hielt seine Arme schützend vor den Bauch. Ein gezielter Tritt in die Eier, und er ging zu Boden.
    Enrico traktierte den praktisch Wehrlosen mit wuchtigen Tritten gegen Nieren und Milz. Das Geschrei seines Zellengenossen schien ihn nur noch mehr anzuspornen. Dino flehte ihn an aufzuhören, doch Enrico schlug weiter auf ihn ein. Irgendwann hielt er erschöpft inne, betrachtete seinen am Boden liegenden Zellengenossen mit einem erstaunten Blick, setzte sich wieder an den Tisch und rauchte in aller Ruhe eine Zigarette. Etwas später hob er den Schwerverletzten auf, legte ihn aufs Bett, reinigte sein Gesicht notdürftig mit einem Papiertaschentuch und deckte ihn, fast liebevoll, mit einer Decke zu. Den Rest des Abends widmete er sich wieder einem seiner Lieblingsromane: ›Schuld und Sühne‹ von Fjodor M. Dostojewskij.
    Lorenzo, ein früherer Liebhaber von Dino, der in der Nachbarzelle saß, hatte Dinos Schreie gehört. Er behielt dies aber vorläufig für sich. Wenn die anderen Gefangenen erfahren würden, daß er dem Gefängnisdirektor Geschichten erzählte, wäre sein Leben keine Lira mehr wert gewesen. Allerdings versuchte er am nächsten Morgen beim Frühstück, zu dem Dino nicht erschien, Enrico zu erpressen.
    Es war ein Samstagmorgen, und die Häftlinge wurden nach dem Frühstück in die Duschräume geführt. Die Dusche bekam Lorenzo an diesem Morgen nicht besonders. Enrico schlug auch ihn
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher