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Triestiner Morgen

Triestiner Morgen

Titel: Triestiner Morgen
Autoren: Edith Kneifl
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nieder und hielt seinen Kopf solange unter das brühend heiße Wasser, bis er beim Leben seiner Mutter schwor, den Mund zu halten.
    Enrico stieg, nachdem er Dino und den schwulen Erpresser verprügelt hatte, in der Achtung seiner Mitgefangenen. Diese Vorfälle konnten jedoch nicht lange geheimgehalten werden. Dino wurde Samstag mittag, als er wieder nicht zum Essen erschien, zum Arzt gerufen, und obwohl er anfangs jede Auseinandersetzung leugnete und sich auch später standhaft weigerte, den Namen desjenigen, der ihn zusammengeschlagen hatte, preiszugeben, verdächtigten Arzt und Beamte natürlich in erster Linie seinen Zellengenossen. Enrico wurde vom stellvertretenden Direktor in sein Büro bestellt. Er gab sofort zu, Dino verprügelt zu haben, versuchte nicht einmal sich zu rechtfertigen, sondern schenkte dem Direktor nur einen langen, traurigen Blick und sagte: »Ich ertrage eben niemanden in meiner Nähe.«
    Dino wurde in eine andere Zelle verlegt. Enrico bekam verschärften Arrest. Er hatte wieder seine Ruhe.
    Einzelhaft bedeutete allerdings auch, daß er drei Monate lang nicht arbeiten und sich auch drei Monate lang keine Bücher von der Gefängnisbibliothek ausborgen durfte. In diesen drei Monaten drohte er verrückt zu werden.
    Er suchte seine Zeit damit auszufüllen, daß er sich die Fingernägel wieder und wieder reinigte und sie zu seidigem Glanz polierte. Die schwarzen Ränder verschwanden völlig. Er kämmte auch wieder und wieder das haarwassergetränkte Haar, putzte sich drei-, viermal am Tag die Zähne, rasierte sich beinahe ebenso oft und wusch sich noch öfter die Hände. Seine Zelle hielt er ebenso sauber wie sich selbst. Sein ganzer Ehrgeiz schien darin zu bestehen, die Decke so glatt wie möglich zu streichen, und in all den Monaten gelang es keinem Aufseher, an seinem Bett Anstand zu nehmen.
    Die Sonntage verbrachte Enrico an seinem Tisch, dort aß er nicht nur seine Mahlzeiten, sondern zeichnete auch stundenlang das Meer und den Hafen von Triest und kritzelte stilisierte Frauenköpfe in sein kleines, schwarzes Buch. Und dort machte er sich auch auf billigem, liniertem Papier regelmäßig tagebuchartige Notizen, die er an die Wand heftete.
    Die Wände seiner Zelle waren bald über und über mit kleinen Zetteln und Daten, die er mit Bleistift oder mit schwarzem Filzstift direkt auf die Mauer schrieb, bedeckt. Manche waren fast bis zur Unleserlichkeit verblaßt, andere hoben sich grell von dem eintönig grauen Anstrich ab.
    Ein Friedhof all seiner Erkenntnisse und guten Vorsätze. Enrico war überzeugt, daß er zumindest einen seiner Vorsätze an diesem Ort niemals einhalten würde. Trotzdem notierte er immer wieder Datum und Uhrzeit der letzten gerauchten Zigarette. Aber er wußte, die letzte Zigarette würde anders, bedeutsamer schmecken, wenn es wirklich die letzte sein sollte. Auch andere Zigaretten können einen eigenen Geschmack haben, doch nie einen so intensiven. Die letzte Zigarette hat das Aroma des Triumphs, des Sieges über sich selbst, und der Hoffnung auf eine baldige Ära der Freiheit und Unabhängigkeit, hatte zumindest Italo Svevo behauptet.
    Auch die Vergünstigungen, die man gewöhnlich langjährigen Gefangenen zugestand, waren ihm nach der Schlägerei mit Dino versagt. Er durfte nicht mehr fernsehen oder Radio hören, Tischtennis und andere körperliche Betätigungen wurden ihm ebenfalls untersagt. Enrico hielt sich mit dreißig Liegestützen und hundert Kniebeugen am Morgen sowie zehn Minuten Laufen im Stand vor dem Schlafengehen fit. Und er las immer wieder in dem einzigen Buch, das er in die Zelle schmuggeln hatte können: Rainer Maria Rilkes ›Duineser Elegien‹.
    In Enricos Wohnung liegen Tausende Bücher herum, verstaubt und von Würmern zerfressen. Ich staube die Bücher nie ab, mir ekelt vor Würmern! Enrico bemüht sich sehr um Ordnung und Sauberkeit. Manchmal geht mir sein Ordnungswahn richtig auf die Nerven. Abstauben haßt er allerdings genauso wie ich.
    Seine Ein-Zimmer-Wohnung liegt im vierten und letzten Stock eines schäbigen Gründerzeitbaus, gegenüber dem Bahnhof. Der Lift funktioniert so gut wie nie, und das Stiegenhaus befindet sich in katastrophalem Zustand. An den Mauern bröckelt der Verputz ab, und das Stiegengeländer wackelt bedrohlich.
    Auch die Wohnung sieht, trotz seines Putzfimmels, wie eine drittklassige Absteige aus. Sie erinnert mich an die Wohnung meiner Mutter. Zwar ist alles halbwegs sauber, aber das Mobiliar verströmt diesen
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