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Trieb

Trieb

Titel: Trieb
Autoren: Martin Krist
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ließen sie einnicken. Ab und zu wurden sie aus dem Schlaf gerissen, meist wenn der Zug in einen Bahnhof eingefahren war, wo sich die Leute mit Gezeter von ihren Angehörigen auf dem Bahnsteig verabschiedeten. So wie jetzt, als wiederholt jemand durch den Waggon brüllte.
    Tabori presste die Augenlider fest aufeinander und stellte sich vor, wie es wäre, wenn er die Heimreise antreten würde. In seinem Rucksack hätte er das verdiente Geld verstaut: viele Münzen und bündelweise Geldscheine. Damit würde er das Leben seiner Familie ändern. Ab sofort bräuchte seine Mutter keine Männer mehr zu empfangen. Er würde ihr einen saftigen Braten zum Abendessen kaufen und seinen Bruder zu einem besseren Arzt schicken können. Für sich selbst würde er eine neue Gitarre erstehen, und weil am Ende natürlich immer noch etwas Geld übrig war, könnte er auch noch für Gentiana ein Geschenk aussuchen. Kein unnützes Zeug, wie es Ryon immer anschleppte. Wer brauchte schon Sonnenbrillen, wenn die Berge das Dorf für die meiste Zeit des Tages in ihre Schatten hüllten? Oder einen Gameboy, dessen Batterien sich nicht aufladen ließen, weil in Gracen wieder einmal der Strom ausgefallen war? Nein, Tabori würde Gentiana ein Paar Handschuhe oder eine Bluse schenken, etwas, an dem sie lange ihre Freude hätte.
    Mit sich zufrieden zog er die Beine an die Brust, bettete den Kopf auf seinen Rucksack und schlief weiter, bis Florims Hand an seiner Schulter rüttelte. »Ey, jetzt werd endlich wach!«
    Vor ihrer Sitzbank stand der Schaffner. Florim kramte die Fahrscheine hervor, doch der kleine Mann schüttelte den Kopf und brummelte unverständliches Zeug in seinen Bart.
    »Ey, Tabori, was sagt er?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Ich dachte, du kannst Deutsch.«
    Tabori versuchte, sich an die wenigen Brocken zu erinnern, die er von seinem Opa gelernt hatte, aber »Äntzschtazion«
und »Ausschtaigen« hatten, so glaubte er, nicht dazugehört. Dafür fiel ihm nun auf, dass das Abteil leer war und der Zug stillstand. Er wies auf das Schild am Bahnsteig, auf dem die Schrift schon verblasst war. »Wir sind da!«
    Sie schnappten sich ihre Sachen und drückten sich an dem schimpfenden Schaffner vorbei Richtung Zugtür. Der Bahnhof war ein unfreundliches graues Gebäude, das aus Stahlträgern und viel Glas errichtet worden war. Durch die trüben Scheiben konnten sie die Stadt, die dahinter liegen musste, nur erahnen.
    Am oberen Absatz einer Treppe sprach sie eine ältere Dame an, die sich mit zwei schweren Taschen abmühte. Der Güterzug, der im gleichen Moment auf dem Nachbargleis vorbeidonnerte, verschluckte den Großteil ihrer Worte, welche die beiden Jungen sowieso nicht verstanden hätten, aber um zu begreifen, worum die Frau sie bat, waren Sprachkenntnisse auch nicht nötig. Florim trug den einen, Tabori den anderen Koffer die Treppe hinunter in die schlauchförmige, hell erleuchtete Bahnhofshalle.
    »Danke«, sagte die Frau und steckte Tabori eine Münze zu.
    »Was hat sie dir gegeben?«, wollte Florim wissen.
    Tabori präsentierte ihm stolz das Geldstück. »50 Eurocent. Ist das viel?«
    »Klingt jedenfalls nach viel«, lachte Florim. »Und das nur, weil wir ihr die Koffer getragen haben.«
    Sie sahen der netten alten Dame nach, wie sie trippelnd in der Menge verschwand. Schwer beladen mit Gepäck eilten die Reisenden an den beiden Jungen vorbei: die einen rauf zu den Gleisen, die anderen raus auf den Bahnhofsvorplatz.
    Zum letzten Mal hatte Tabori einen solchen Menschenauflauf vor vielen Monaten erlebt, als in der alten Weberei von Gracen das Feuer ausgebrochen war. Fast alle aus dem Dorf hatten beim Löschen geholfen oder dabeigestanden. Und wie damals, als auch sie inmitten des Tumults fasziniert die Flammen beobachtet hatten, verharrten Tabori und Florim nun unschlüssig auf dem Platz vor dem Bahnhof. Den kalten Wind, der an ihren Kleidern zerrte, bemerkten sie nicht. Vom Skanderberg her waren sie noch eisigere Temperaturen gewohnt.
    Auf der breiten Straße vor ihnen lieferten sich Autos, Lkws und Busse einen ständigen Wettstreit um die nächsten freien Meter. Die hohen Häuser und Geschäfte sahen dem geschäftigen Treiben wie ein stilles, stolzes Publikum zu. Die Fassaden, die Schaufenster, selbst die Tannen auf den Bürgersteigen erstrahlten im Glanz von Lichterketten. In einigen Läden glitzerten sogar noch Adventssterne, Engel und Weihnachtsmänner.
    Florim knuffte Tabori in die Seite. »Wir sind in Berlin. Ey, ist das nicht
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