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Treue in Zeiten Der Pest

Treue in Zeiten Der Pest

Titel: Treue in Zeiten Der Pest
Autoren: Philipp Espen
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bärtiger Jude mit einer Kippa auf dem Kopf öffnete ihnen ganz selbstverständlich die Tür und führte sie in sein dunkles Haus, in dem es nach Minze roch. Es bestand aus nur einem einzigen Wohnraum, in dessen Zentrum ein Tisch stand, auf dem zahlreiche Handschriften und Bücher lagen. Die Frau des Alten sah auf, grüßte mit einem ernsten Gesicht und hantierte dann weiter an einem Holzfeuer, über dem ein Kessel hing.
    Joshua gab sich zu erkennen. Er fragte: »Können Juden hier friedlich leben?«
    »Ja«, antwortete der Alte, der Meier Sholem hieß. »Denn es gab seit hundert Jahren keine Krankheiten mehr hier. Und jeder hat sein Auskommen. Das sind die wichtigsten Gründe dafür, dass man uns in Ruhe lässt.«
    »Dann habt ihr Glück!«, sagte Joshua. »Im Westen sieht es anders aus.«
    »Ich habe davon gehört«, erwiderte der Jude sorgenvoll. »Und wir wissen, dass sich auch unser Schicksal über Nacht rasch ändern kann. Ganz ohne Gefahr haben wir noch nie gelebt.«
    »Können wir im Ort übernachten?«
    »Natürlich. Ich bringe euch unter. Bleibt, solange ihr wollt. Unsere Gemeinde besteht aus dreißig Familien. Wir haben sogar ein Studierhaus und eine Synagoge aus Holz. So gut geht es nicht vielen Judengemeinden in der Seine-Maritime.«
    »Seine-Maritime? So heißt die Region?«
    »Ja. Aber jetzt ist es Zeit, das Ma’ariw zu halten. Ich werde euch in mein Gebet einschließen.«
    »Ich bete mit Euch«, sagte Joshua und zog sich mit dem Alten in eine Ecke zurück.
    Dort legten sich die beiden ihren Gebetsschal um und die ledernen Tefillin und griffen sich an die Stirn, den Sitz des Geistes. Dann begannen sie, sich ruckartig vor- und zurückzubewegen. Ihre leisen Stimmen wirkten auf die Gefährten beruhigend.
    Als das Gebet beendet war, durchfuhr die beiden Juden ein Schauder. Henri, der sie betrachtete, wusste, das hatte mit der Erinnerung an so viele erlittene Gefahren und Leiden zu tun.
    Die Frau des Juden, die sich im Hintergrund hielt und die ganze Zeit über am Feuer hantiert hatte, trug eine wohlriechende Suppe auf. Sie war noch erstaunlich jung und lächelte kaum merklich.
    Von fern zogen leise Geräusche von den weidenden Schafen herüber. Und jemand lachte. Im Wohnhaus wurde es mit der Zeit immer dunkler und ruhiger. Der Abend kam, und bald senkte sich die Nacht herab. Die Gefährten fühlten sich, als seien sie bei Freunden zu Gast. Henri wusste, wie bedrohlich die Lage für die Juden in diesem Land war. Daher dankte er Meier Sholem und seiner bescheidenen Frau für ihre Großzügigkeit von Herzen.
    Der Jude verteilte die Freunde über drei weitere Häuser. Dort herrschte eine ähnliche Stimmung wie bei Meier Sholem. Eine wohltuende Ruhe lag über allem, während die Familien taten, was getan werden musste.
    Kurz vor dem Schlafengehen sagte Joshua, der in einer Ecke des Hauses ein einfaches Lager zugewiesen bekommen hatte, zu Meier Sholem: »Du weißt, mein Bruder, dass der Name unseres Herrn unaussprechbar ist. Und dass er sieben heilige Namen hat.«
    »Ja, das weiß ich.«
    »Aber heute Abend möchte ich doch einen Namen aussprechen. Ich nenne den Herrn, unseren Gott, in deiner Gegenwart den Gesunderhalter. Unser Herr sorge dafür, dass die Pest diesem Haus und diesem Dorf fernbleibt, dass ihr alle gesund bleibt und dass kein einziger Jude mehr sterben muss, wenn eine Seuche ausbricht.«
    »Amen«, sagte der alte Jude. Und er legte sich neben sein Weib nieder.
    Bald waren die drei Menschen in dem dunklen, warmen und stillen Raum voller Vertrauen auf die Gegenwart des gütigen Gottes eingeschlafen.

 
    Historische Nachbemerkung:
     
     
     
    Der Siegeszug des schwarzen Todes
     
    Zu Beginn dieses neuen Abenteuers von Henri, Joshua und Uthman hält die Pest Einzug im französischen Quimper, einer kleinen Stadt in der Bretagne. Die Geschichte spielt im Frühjahr und Frühsommer des Jahres 1318, also etwa drei Jahrzehnte vor dem historisch bezeugten Siegeszug des schwarzen Todes in Europa, und sie bleibt, anders als ihr historisches Vorbild, ein regionales Phänomen. Doch auch wenn die Erzählung den geschichtlichen Gegebenheiten in diesen Punkten widerspricht, denkbar ist ein solch lokal begrenzter Ausbruch der Seuche, wie er in der Erzählung geschildert wird, durchaus.

 
    Die Geschichte der Pest bis zum Mittelalter
     
    Die verheerende Krankheit ist seit der Antike bekannt. Allerdings sind die überlieferten Berichte über Ausbrüche oft nicht eindeutig und nur schwer zu interpretieren, und da
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