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Treibgut der Strudelsee

Treibgut der Strudelsee

Titel: Treibgut der Strudelsee
Autoren: Horst Hoffmann
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das Schiff strandete. Ich nehme doch an, dass du mit ihm kamst?«
    *
    Mädchen erschienen und führten Mythor zu einer der zwischen den Hütten errichteten Feuerstellen, über der ein Spieß mit duftendem, knusprig gebratenem Fleisch gedreht wurde. Andere brachten Wein herbei, den sie aus den Früchten des Waldes gewonnen hatten. Für kurze Zeit zwang sich Mythor dazu, alle Fragen zu vergessen, die seinen Geist verwirrten. Er aß und trank, und wohlige Wärme breitete sich in ihm aus. Ein Jüngling spielte auf einem selbstgefertigten Saiteninstrument und sang von schönen Dingen, pries die Götter, die ihm den Weg ins Paradies gewiesen hatten, und dankte für die Gaben, die sie ihm und seinem Volk jeden neuen Tag bescherten.
    Mythor hörte ihm zu, und die innere Stimme, die ihn wieder und wieder zur Wachsamkeit mahnte, wurde mit jedem Schluck aus dem hölzernen Becher schwächer. Er sah sich um. Mehr als zwei Dutzend Hütten füllten den freien Platz aus, und jede mochte zehn oder mehr Menschen aufnehmen. Die Männer und Frauen gehörten den verschiedensten Volksstämmen an. Sie waren nicht hier geboren. Er sah bärtige Hünen aus den Nordländern, dunkelhäutige Bewohner der südlichen Regionen und solche, die er nicht einzuordnen vermochte.
    Nilombur setzte sich mit einem Becher in der Hand zu ihm und schien seine Gedanken zu kennen. »Sie entstammen allen möglichen Seevölkern der Strudelsee«, sagte er. »Wir alle befuhren einstmals das Innenmeer, bevor wir in den Sarmara-Strudel gerieten und hier kenterten oder angeschwemmt wurden wie du.« Nilombur lächelte. »Natürlich nicht gerade so wie du, Mythor. Aber fürchte deine Feinde nicht länger. Sie werden deine Freunde sein, denn Hass hat keine Nahrung in diesem Land.«
    »Feinde, Freunde«, murmelte Mythor, und die Erinnerung ließ ihn für kurze Zeit den Zauber um sich herum vergessen. »Das liegt nahe beieinander, Nilombur.«
    Der Bärtige blickte ihn forschend an. Mythor schätzte sein Alter auf vierzig, vielleicht schon fünfzig oder sechzig Sommer. Es war sehr schwer zu sagen. Irgend etwas schien diese Menschen hier ewig jung zu erhalten. Nirgendwo sah er Waffen, nicht einmal solche, wie die Männer sie für die Jagd benötigten. Dieses Land schien ihnen tatsächlich alles von selbst zu geben, was sie zum Leben brauchten.
    War dies ein Spiegelbild der Lichtwelt, wie sie war, bevor die Finsternis sich über sie ausgebreitet hatte? fragte er sich.
    »Du denkst, mein junger Freund«, sagte Nilombur. »Du denkst zu viel. Gedanken sind wie Gefängnisse, wie Kerkermauern, in die Menschen sich selbst einschließen.«
    »Dann denkt ihr überhaupt nicht?« Mythors Frage war etwas zu heftig hervorgestoßen, und sogleich kam er sich vor wie ein Frevler.
    Nilombur aber zeigte sein nachsichtiges Lächeln und sagte: »Warte nur ab, Mythor. Die Zeit wird alle deine Fragen beantworten.«
    »Zeit…« Mythor blickte sinnend in die glühenden Holzscheite. »Ich habe nicht viel Zeit.«
    Nilombur lächelte nur. Er stand auf und schickte sich an, zu einer der Hütten zu gehen, als Mythor ihn noch einmal zurückrief: »Sag mir, wann kamen die ersten von euch hierher?«
    »Vor langer Zeit. Wir zählen die Sonnenwenden nicht, Mythor. Aber warum fragst du?«
    »War dieses Land damals schon so wie jetzt?«
    Nilombur nickte. »Es war so, wie du es nun siehst. Wir bauten nur unsere Hütten.«
    »Aber ihr musstet doch Felder anlegen und…«
    »Sarmara gibt uns alles ohne unser Dazutun, Mythor.«
    »Und was draußen in der Welt geschieht, jenseits des Strudels… das bekümmert euch nicht?«
    Zum erstenmal sah Mythor eine Spur von Unwillen in Jilomburs Gesicht. »Die Götter machten uns dieses Eiland zum Geschenk, mein Freund. Sie hätten es nicht getan, wäre es ihr Wille gewesen, dass wir anderswo unser und anderer Blut vergießen.« Damit wandte er sich ab und verschwand in der Hütte.
    Mythor blieb allein zurück, trank vom Wein und legte sich auf den Rücken. Mädchen kamen und lachten, hockten sich zu ihm und betupften ihn mit wohlriechenden Ölen. Auch sie trugen nichts am Leib als Lendenschurze und geflochtene Kränze. Ihre zarten Hände strichen über seine Haut und machten ihn seine Sorgen für kostbare Augenblicke vergessen. Sie brachten neuen Wein heran. Mythor sprach ihm zu und sah diese kleine Welt allmählich in einem neuen Licht. Warum quälte er sich? Hatte Nilombur nicht recht? Waren seine Worte nicht die eines Weisen?
    Die Sonne versank in den Wipfeln der Bäume.
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