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Traumtrunken

Traumtrunken

Titel: Traumtrunken
Autoren: Kathrin Schachtschabel
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mehr darüber. Es war normal, dass er an Weihnachten auch seine Eltern besuchte.
    Seinen neuen Schlitten würde er schon früh genug bekommen. Er stand drüben unter dem Weihnachtsbaum. So wie Atze ihn hingestellt hatte. Den Umzugskarton hatte Michaela wieder in den Keller getragen.
    Ricos zeitweise Abwesenheit hätte ihr wirklich nichts ausgemacht, wäre nicht am zweiten Weihnachtsfeiertag etwas schrecklich Trauriges passiert.
    Atze schlief noch. Michaela trieb der Hunger aus dem Bett und die Ruhe, die ihr ungewohnt erschien.
    Sie zog sich ihren Bademantel über und war auf dem Weg in die Küche, um Frühstück zu machen.
    Doch sie kam nur bis zum Wohnzimmer.
    Obwohl Gelblings Käfig mit einem Tuch abgedeckt war, konnte sie es sehen. Der kleine Körper lag leblos am Boden, die Beine weit von sich gestreckt.
    Michaela wusste nicht, was sie denken sollte. In den ersten Monaten, nachdem Atze Gelbling mitgebracht hatte, hatte sie heimlich auf solch einen Moment gewartet. Doch jetzt, wo sie ihn dort liegen sah, konnte sie nichts anderes als weinen. Michaela setzte sich neben dem Käfig aufs Sofa und presste die Hände zwischen ihre Beine. Sie schaukelte vor und zurück, vor und zurück.
    Was sollte sie nur machen? Wie sollte sie das Rico erklären? Sie wusste ja selbst nicht, was passiert war.
    Gestern Abend, als Atze das Türchen geöffnet hatte, war Gelbling noch im Wohnzimmer umhergeflogen.
    Michaela weinte leise, so dass Atze sie nicht hören konnte. Die Tränen tropften auf ihre Hände, doch sie ignorierte sie.
     
    Später ging sie in die Küche, stellte Müsli und Milch auf ein Tablett, wartete, bis der Kaffee durchgelaufen war und brachte das Frühstück zu Atze hinüber.
    Sie setzte sich auf die Bettkante, stellte das Tablett zu ihren Füßen ab und wartete, bis Atze sich umdrehte.
    „Gelbling ist tot!“, sagte sie dann und fiel ihm weinend in die Arme.
    „Gelbling?“, fragte Atze.
     
    ***

Um die Beerdigung musste Atze sich kümmern. „Bring ihn weg“, hatte Michaela ihn angeschrien, weil er so untätig herumgestanden hatte. Dabei musste auch er über den Tod des Vogels erst hinwegkommen.
    Atze wusste gar nicht, was er mit ihm machen sollte. Er konnte ihn doch nicht einfach in der Anlage vergraben. Außerdem war Winter, der Boden gefroren.
    Ihm war es unangenehm, den Leichnam zu entsorgen. Er ließ sich von Michaela ein Handtuch geben und hob den Vogel vorsichtig aus dem Käfig. Durch das Tuch spürte er den kleinen Körper. Schnell wickelte er ihn darin ein und steckte ihn in den Mülleimer. Er beeilte sich, den Unterboden des Käfigs vom Sand zu befreien, schüttete das Futter aus und brachte die Mülltüte nach unten.
    Als er in die Wohnung zurückkam, war der Käfig schon weg. Michaela hatte ihn auf den Balkon gestellt.
    „Heute bin ich das erste Mal froh darüber, dass mir meine Mutter keine Haustiere erlaubt hat“, sagte er zu Michaela.
    Sie schwieg betroffen.
    Es war ruhig hier ohne den Vogel, auch wenn er nicht oft gesungen hatte.
    Das Klimpern der Stangen, sein Auf- und Abhüpfen im Käfig, das Rascheln seiner Flügel, wenn er sich streckte. Nichts war mehr zu hören.
    Ausgerechnet an Weihnachten, dachte Atze.
    „Was glaubst du, warum er gestorben ist?“, fragte Michaela.
    Atze zuckte mit den Schultern. „Damit kenn ich mich nicht aus.“
    „Warum hast du ihn dann mitgebracht?“
    Atze ging nicht darauf ein.
    „Lass uns nochmal ins Bett verschwinden und einen besseren Tag draus machen.“
    Er fasste Michaela an der Schulter. Sie sah noch immer traurig aus. Atze hätte schwören können, dass es ihm mehr ausmachen müsste als ihr.
     
    ***

Nach Gelblings Ableben wurde alles anders. Der Tod war in ihre Wohnung eingekehrt und hatte sich wie eine Staubschicht auf alle Möbel gelegt.
    Michaela kannte das Gefühl. So war es damals gewesen, als sie Oma Elvi im Krankenhaus besucht hatte. Bereits Wochen bevor sie gestorben war, hatte Michaela die Veränderungen an ihr wahrnehmen können. Sie war zu ihr gegangen, hatte sich auf ihr Bett gesetzt und ihr kleine Geschichten vorgelesen.
    Am Anfang hatte Oma Elvi sie darum gebeten. Später dann, als sie zum Reden zu schwach war, hatte sie nur noch zustimmend genickt, wenn Michaela nach einem Buch griff.
    Zwei Tage vor ihrem Tod war nur noch ein angestrengtes Lächeln übrig geblieben.
    Und jetzt war es wieder da, dieses Gefühl.
    Michaela brachte Benni morgens weg, ging arbeiten und versuchte, den Kummer hinter ihrer Fassade verschwinden zu
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