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Traumsammler: Roman (German Edition)

Traumsammler: Roman (German Edition)

Titel: Traumsammler: Roman (German Edition)
Autoren: Khaled Hosseini
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gezogen, allabendlich vor dem Einschlafen seine Wange gestreichelt und ein Wiegenlied gesungen hatte. 
    Ich fand eine kleine, traurige Fee
    Im Schatten eines Baums am See.
    Ich weiß eine kleine, traurige Fee,
    Die wurde vom Wind davongeweht.
    Er hätte seine neue Mutter gern genauso geliebt. Und vielleicht, dachte er, wünschte Parwana sich dies auch – ihn lieben zu können. Wie Iqbal, ihren einjährigen Sohn, dessen Gesicht sie ständig mit Küssen bedeckte, den sie hätschelte und tätschelte, sobald er nur hustete oder nieste. Oder wie Omar, ihr erstes Kind. Sie hatte ihn vergöttert, aber er war während des Winters vor drei Jahren an Kälte gestorben. Er war erst zwei Wochen alt gewesen. Parwana und sein Vater hatten ihm gerade erst einen Namen gegeben. Er war einer von drei Säuglingen aus Shadbagh, die dieser bittere Winter das Leben gekostet hatte. Abdullah erinnerte sich daran, wie Parwana Omars kleinen, noch in einer Windel steckenden Leichnam umklammert hatte, und er erinnerte sich an ihre verzweifelte Trauer. Er erinnerte sich an den Tag, als sie ihn auf dem Hügel im gefrorenen Boden beerdigt hatten, ein winziges Grab unter dem bleigrauen Himmel. Mullah Shekib hatte die Gebete gesprochen, und der Wind hatte ihnen Eis und Schnee in die Augen gepeitscht.
    Parwana, so befürchtete Abdullah, würde vor Zorn kochen, wenn sie merkte, dass er sein einziges Paar Schuhe gegen eine Pfauenfeder eingetauscht hatte. Sein Vater hatte wie ein Pferd geschuftet, um diese Schuhe bezahlen zu können. Sie wäre außer sich, wenn sie es bemerkte, und vielleicht, dachte Abdullah, würde sie ihn sogar schlagen. Das hatte sie schon mehrmals getan. Ihre Hände waren schwer und kräftig – weil sie jahrelang ihre behinderte Schwester hatte heben müssen, wie Abdullah vermutete –, und sie konnte sowohl einen Besenstiel schwingen als auch gut gezielte Hiebe austeilen.
    Doch er wusste, dass Parwana keine Freude daran hatte, ihn zu schlagen. Außerdem konnte sie durchaus zärtlich zu ihren Stiefkindern sein. So hatte sie Pari einmal ein silbergrünes Kleid aus einem Stoffballen genäht, den sein Vater aus Kabul mitgebracht hatte. Und sie hatte Abdullah erstaunlich geduldig gezeigt, wie man zwei Eier gleichzeitig aufschlug, ohne dabei Eigelb und Eiweiß zu vermischen. Außerdem hatte sie ihnen, wie schon in jungen Jahren ihrer eigenen Schwester, beigebracht, kleine Puppen aus Kornähren zu flechten. Sie hatte ihnen gezeigt, wie man aus Stofffetzen Kleider für die Puppen nähte.
    Doch Abdullah wusste, dass all dies nur Gesten waren, die ihrem Pflichtgefühl entsprangen und nicht einer Liebe, wie sie sie für Iqbal empfand. Er wusste genau, welches Kind Parwana retten würde, falls ihre Hütte eines Nachts in Brand geriet, und sie würde es bedenkenlos tun. Unter dem Strich war die Rechnung einfach: Pari und er waren nicht ihre Kinder. Die meisten Menschen liebten nur ihr eigenes Fleisch und Blut. Seine Schwester und er gehörten nicht zu Parwana, daran war nichts zu ändern. Sie waren die Hinterlassenschaft einer anderen Frau.
    Er wartete, bis Parwana das Brot in die Hütte brachte, und sah dann zu, wie sie wieder herauskam, Iqbal im einen und einen Berg Wäsche im anderen Arm. Er schaute ihr nach, als sie zum Bach ging, und schlich erst ins Haus, nachdem sie außer Sicht war. Seine Fußsohlen schmerzten bei jedem Schritt. In der Hütte zog er die alten Plastiksandalen an, das einzige Schuhwerk, das ihm geblieben war. Abdullah wusste, dass er etwas sehr Unvernünftiges getan hatte. Doch als er sich neben Pari kniete und sie behutsam weckte und die Feder dann wie ein Zauberer hinter dem Rücken hervorzog, wusste er, dass es sich gelohnt hatte, denn sie war erst zutiefst überrascht und zeigte dann strahlende Freude, bedeckte seine Wangen mit Küssen und kicherte, als er sie mit der weichen Federspitze am Kinn kitzelte – und seine Füße taten plötzlich gar nicht mehr weh.
    Sein Vater wischte sich das Gesicht erneut mit dem Ärmel ab. Sie tranken abwechselnd aus dem Wasserbeutel. Danach sagte sein Vater: »Du bist müde, Junge.«
    »Nein«, log Abdullah. Er war tatsächlich erschöpft. Und seine Füße schmerzten. Es war nicht einfach, die Wüste in Sandalen zu durchqueren.
    Sein Vater sagte: »Steig auf.«
    Abdullah lehnte sich auf dem Karren gegen die Holzlatten. Er konnte die Rückenwirbel der vor ihm sitzenden Pari auf Brust und Bauch spüren. Während sie von ihrem Vater gezogen wurden, betrachtete er den Himmel und die
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