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Traumsammler: Roman (German Edition)

Traumsammler: Roman (German Edition)

Titel: Traumsammler: Roman (German Edition)
Autoren: Khaled Hosseini
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Berge und die endlosen, in der Ferne verschwimmenden Ketten der rundlichen, eng beieinanderliegenden Hügel. Er betrachtete den Rücken seines Vaters, der sie mit gesenktem Kopf zog und dessen Füße den rotbraunen Sand aufwirbelten. Eine Karawane von Kuchi-Nomaden kam ihnen entgegen, eine staubige Prozession mit Glöckchengebimmel und Kamelgeschnaube, und eine Frau mit kajalgeschminkten Augen und weizenfarbenen Haaren schenkte Abdullah ein Lächeln.
    Ihre Haare erinnerten Abdullah an seine Mutter, die er plötzlich schmerzlich vermisste. Er vermisste ihre Zärtlichkeit und ihr fröhliches Wesen, ihre Verwirrung angesichts der Grausamkeit anderer Menschen. Er erinnerte sich an ihr glucksendes Lachen und die schüchterne Art, mit der sie manchmal den Kopf zur Seite gelegt hatte. Seine Mutter war ein zartes Geschöpf gewesen, sowohl körperlich als auch geistig, eine gertenschlanke Frau mit schmaler Taille und üppigen Haaren, die immer unter dem Kopftuch hervorgeschaut hatten. Abdullah hatte sich oft gefragt, wie ein so zarter, kleiner Körper so viel Lebensfreude und Güte beherbergen konnte. Er konnte es tatsächlich nicht: Beides brach immer wieder aus ihr heraus, entströmte ihren Augen. Sein Vater war anders. Sein Vater besaß eine gewisse Härte. Er hatte die gleiche Welt vor Augen wie seine erste Frau, sah jedoch nur Gleichgültigkeit. Endlose Schufterei. Die Welt seines Vaters war gnadenlos. Man bekam darin nichts geschenkt. Nicht einmal Liebe. Man musste für alles bezahlen, und wenn man arm war, war Leiden die Währung. Abdullah betrachtete den Grind im Scheitel seiner kleinen Schwester, ihr schmales, über dem Karrenrand hängendes Handgelenk, und er wusste, dass ein Teil ihrer Mutter bei deren Tod auf Pari übergegangen war. Ein Teil ihrer fröhlichen Hingabe, ihrer Arglosigkeit, ihrer unerschütterlichen Hoffnung. Pari war der einzige Mensch auf der ganzen, weiten Welt, der ihn niemals verletzen würde, niemals verletzen konnte. An manchen Tagen hatte Abdullah das Gefühl, dass seine wahre Familie nur aus ihr bestand.
    Die Farben des Tages lösten sich langsam in Grau auf, und die undurchdringlichen Silhouetten der fernen Berggipfel glichen gekrümmt dasitzenden Riesen. Am Morgen waren sie an einigen Dörfern vorbeigekommen, fast alle so staubig wie Shadbagh. Kleine, quadratische, weit auseinanderliegende, teils auf Berghängen erbaute Lehmziegelhäuser, von deren Dächern Rauchfäden aufstiegen. Wäscheleinen, vor Kochstellen hockende Frauen. Einige Pappeln, ein paar Hühner, Kühe und Ziegen, und immer eine Moschee. Das letzte Dorf, an dem sie vorbeikamen, lag neben einem Mohnfeld, und ein alter Mann, der sich an den Samenkapseln zu schaffen machte, winkte ihnen. Er rief etwas, das Abdullah nicht verstand. Sein Vater winkte zurück.
    Pari sagte: »Abollah?«
    »Was denn?«
    »Ist Shuja traurig?«
    »Nein, es geht ihm gut.«
    »Ihm wird doch niemand weh tun?«
    »Er ist ein großer Hund, Pari. Er kann sich wehren.«
    Shuja war tatsächlich groß. Ihr Vater meinte, er müsse früher ein Kampfhund gewesen sein, weil Ohren und Schwanz aufgeschlitzt waren. Ob er sich wehren konnte oder wollte, stand jedoch auf einem anderen Blatt. Als dieser Streuner zum ersten Mal in Shadbagh aufgetaucht war, hatten die Kinder ihn mit Steinen beworfen und mit Ästen oder rostigen Fahrradspeichen gepiekt. Shuja hatte sich nicht gewehrt. Nach einer Weile hatten die Dorfkinder keine Lust mehr, ihn zu quälen, und ließen ihn in Ruhe. Shuja blieb jedoch weiter so misstrauisch und vorsichtig, als hätte er ihre Gemeinheiten nicht vergessen.
    Er ging in Shadbagh allen außer Pari aus dem Weg. Was sie betraf, so ließ er jede Vorsicht fahren. Er liebte sie heiß und innig. Sie war sein Universum. Wenn Shuja morgens sah, wie Pari die Hütte verließ, sprang er auf und zitterte am ganzen Körper. Sein verstümmelter Schwanz wedelte wild hin und her, und er tänzelte, als würde er auf heißen Kohlen laufen. Er umsprang sie fröhlich, und er blieb Pari den ganzen Tag auf den Fersen und beschnüffelte ihre Füße, und abends, wenn sich ihre Wege trennten, lag er einsam draußen vor der Tür und wartete auf den Morgen.
    »Abollah?«
    »Ja?«
    »Werde ich mit dir zusammenleben, wenn ich groß bin?«
    Abdullah betrachtete die tiefstehende, orangerote Sonne, die schon fast den Horizont berührte. »Von mir aus gern. Aber das wirst du nicht wollen.«
    »Doch, das will ich!«
    »Du wirst dir ein eigenes Zuhause wünschen.«
    »Aber wir
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