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Traumsammler: Roman (German Edition)

Traumsammler: Roman (German Edition)

Titel: Traumsammler: Roman (German Edition)
Autoren: Khaled Hosseini
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Tee wie eine Opfergabe. Der aus der Tasse aufsteigende Dampf ist kaum noch zu erkennen, das Rot des Gewandes zu Rosa verblasst. Ich löse den Verschluss und öffne den Deckel. Die Dose ist voller Federn in allen Formen und Farben: Kurze, buschige, grüne Federn; lange, ingwerfarbene mit schwarzen Kielen; eine pfirsichfarbene Feder mit lila Schimmer, vermutlich von einer Wildente; braune Federn mit dunklen Punkten in der Mitte; eine grüne Pfauenfeder mit einem großen Auge auf der Spitze.
    Ich drehe mich zu Pari um. »Weißt du, was das zu bedeuten hat?«
    Paris Kinn bebt, als sie den Kopf schüttelt. Sie nimmt mir die Dose ab und schaut hinein. »Nein«, sagt sie. »Ich weiß nur, dass unsere Trennung für Abdullah viel schlimmer gewesen sein muss als für mich. Ich hatte Glück, denn meine jungen Jahre waren ein Schutzschirm. Je pouvais oublier . Ich hatte den Luxus, vergessen zu können. Er nicht.« Sie streicht mit einer der Federn über ihr Handgelenk, blickt sie an, als könnte sie jeden Moment zum Leben erwachen und davonfliegen. »Ich weiß nicht, was diese Federn zu bedeuten haben. Ich kenne ihre Geschichte nicht. Aber sie sagen mir, dass er an mich gedacht hat. Während all der Jahre. Er hat mich nie vergessen.«
    Ich lege ihr einen Arm um die Schulter, während sie leise weint. Ich betrachte den Fluss, die sonnenbeschienenen Bäume, das vorbeiströmende Wasser und die Brücke – Pont Saint-Bénézet –, um die es in dem Kinderlied geht. Die Hälfte fehlt, vier Bögen, und sie endet mitten im Fluss. Als würde sie sich vergeblich nach dem anderen Ufer strecken.
    Ich liege nachts im Hotelbett wach und sehe den Wolken zu, die am dicken und kugelrunden, in das Fenster scheinenden Mond vorbeiziehen. Draußen klackern Absätze über das Kopfsteinpflaster. Ich höre Gelächter und Geplauder. Mopeds knattern vorbei. Das Klirren von Gläsern auf Tabletts im gegenüberliegenden Restaurant. Klaviermusik klingt durch das Fenster bis an meine Ohren.
    Ich drehe mich zu Pari um, die lautlos neben mir schläft. Sie wirkt blass im Mondschein. Ich kann Baba in ihrem Gesicht erkennen, den jungen, hoffnungsvollen, glücklichen Baba, so, wie er früher war, und ich weiß, dass ich ihn immer vor Augen haben werde, wenn ich Pari anschaue. Sie ist von meinem Fleisch und Blut. Und ich werde bald ihre Kinder und Enkelkinder kennenlernen, in deren Adern auch mein Blut fließt. Ich bin nicht allein. Auf einmal erfüllt mich ein Glücksgefühl. Es sickert in mich ein, und Dankbarkeit und Hoffnung treiben mir Tränen in die Augen.
    Beim Anblick der schlafenden Pari fällt mir ein, was Baba und ich immer vor dem Einschlafen gespielt haben. Das Einsammeln von schlechten und das Säen von schönen Träumen. Ich weiß noch, welchen Traum ich ihm jedes Mal schenkte, und ich lege Pari eine Hand auf die Stirn, ganz sanft, um sie nicht zu wecken. Ich schließe die Augen.
    Ein sonniger Nachmittag. Sie sind wieder Kinder, Bruder und Schwester, jung und kräftig und mit klarem Blick. Sie liegen im Schatten eines von Blüten überquellenden Apfelbaums im hohen Gras. Das Gras wärmt ihnen den Rücken, und der durch die üppige Blütenpracht fallende Sonnenschein wärmt ihre Gesichter. Sie liegen schläfrig und zufrieden da, Seite an Seite. Sein Kopf ruht auf einer dicken Wurzel, ihr Kopf auf seiner Jacke, die er für sie ausgebreitet hat. Sie betrachtet aus halbgeschlossenen Augen eine Drossel, die auf einem schwer mit Blütenkelchen beladenen Ast sitzt. Manchmal lässt ein kühler Windhauch das Laub rascheln und streicht über sie hinweg.
    Sie dreht sich zu ihm um, zu ihrem großen Bruder, ihrem Gefährten auf allen Wegen. Sein Gesicht ist ihr so nahe, dass sie nur den Schwung seiner Augenbrauen, die Wölbung der Nase, die Wimpern sehen kann, aber das macht ihr nichts aus. Denn sie ist froh und glücklich, weil sie bei ihm ist, neben ihrem Bruder liegt, und eine tiefe Ruhe hüllt sie ein, während sie allmählich im Schlaf versinkt. Sie schließt die Augen, schlummert unbesorgt ein, und alles ist klar, und alles leuchtet, und die ganze Fülle der Welt ist gegenwärtig.

Dank
    Zuerst ein paar Anmerkungen zu diesem Roman. Das Dorf Shadbagh ist zwar fiktiv, aber es wäre denkbar, dass es irgendwo in Afghanistan ein Dorf dieses Namens gibt. Wenn ja, so bin ich dort nie gewesen. Abdullahs und Paris Kinderlied, vor allem die darin vorkommende »traurige, kleine Fee«, ist von der großen, verstorbenen persischen Dichterin Forough Farrokhzad
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