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Traumsammler: Roman (German Edition)

Traumsammler: Roman (German Edition)

Titel: Traumsammler: Roman (German Edition)
Autoren: Khaled Hosseini
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meinem Haus verschwinden!«
    »Baba!«
    Pari ist kreidebleich. Tränen strömen ihr über die Wangen.
    »Weg mit dem Stock, Baba, um Gottes willen! Und bleib stehen. Sonst trittst du in die Scherben.«
    Ich muss einen kleinen Kampf mit ihm ausfechten, bevor ich ihm den Stock entwinden kann.
    »Diese Frau soll weg! Sie stiehlt!«
    »Was redet er da?«, fragt Pari traurig.
    »Sie hat meine Tabletten gestohlen!«
    »Das sind ihre Tabletten, Baba«, sage ich, lege ihm den Arm um die Schultern und führe ihn aus der Küche. Ich spüre, wie er bebt, und als wir an Pari vorbeikommen, muss ich ihn bremsen, damit er sich nicht wieder auf sie stürzt. »Lass das, Baba, es reicht. Und das sind ihre Tabletten, nicht deine. Sie nimmt sie wegen ihrer Hände.« Auf dem Weg zum Sessel greife ich nach einem Einkaufskatalog.
    »Ich traue der Frau nicht«, sagt Baba, als er auf den Sessel sinkt. »Du hast ja keine Ahnung. Aber ich! Ich wittere einen Dieb aus zehn Meilen Entfernung!« Er entreißt mir keuchend den Katalog, blättert wie wild die Seiten um, wirft ihn dann in seinen Schoß und blickt mit hochgezogenen Augenbrauen zu mir auf. »Und sie ist eine verdammte Lügnerin. Weißt du, was diese Frau zu mir gesagt hat? Weißt du, was sie gesagt hat? Dass sie meine Schwester ist! Meine Schwester! Warte, bis Sultana das erfährt.«
    »Gut, Baba. Wir werden es ihr gemeinsam sagen.«
    »Verrücktes Weib.«
    »Wir werden es Mutter erzählen, und dann werden wir so lange über diese Frau lachen, bis sie verschwindet. Und nun entspann dich, Baba. Alles ist gut. So.«
    Ich schalte den Wetterkanal ein und setze mich neben ihn, streichele seine Schulter, bis er nicht mehr zittert und wieder ruhig atmet. Fünf Minuten später ist er schon eingeschlafen.
    Pari hockt in der Küche auf dem Fußboden, den Rücken gegen die Geschirrspülmaschine gelehnt. Sie wirkt tief erschüttert, tupft sich die Tränen mit einer Papierserviette ab.
    »Das tut mir sehr leid«, sagt sie. »Das war dumm von mir.«
    »Schon gut«, sage ich und hole Handfeger und Kehrblech unter der Spüle hervor. Zwischen den Scherben liegen kleine, rosa- und orangefarbene Tabletten. Ich sammele sie auf und fege die Scherben zusammen.
    » Je suis une imbécile . Ich habe mich so danach gesehnt, es ihm zu erzählen. Ich dachte, wenn ich ihm die Wahrheit sage, würde er vielleicht … Ach, ich weiß auch nicht, was ich mir dabei gedacht habe.«
    Ich werfe die Scherben in den Mülleimer. Dann beuge ich mich zu Pari herunter und öffne ihren Hemdkragen, weil ich sehen will, ob Baba sie mit seinem Stock verletzt hat. »Das wird ein dicker blauer Fleck. Ich spreche aus Erfahrung.« Ich setze mich neben sie.
    Sie öffnet eine Hand, und ich gebe ihr die Tabletten. »Ist er oft so?«
    »Er hat seine schwierigen Tage.«
    »Vielleicht solltest du eine professionelle Hilfe für ihn finden.«
    Ich nicke seufzend. Ich habe in letzter Zeit oft an den Tag denken müssen, an dem ich morgens in einem leeren Haus aufwachen werde, während Baba in einem ihm fremden Bett liegt und das von einer unbekannten Person gebrachte Frühstück beäugt oder im Tagesraum an einem Tisch einnickt. Denn dieser Tag wird kommen, das weiß ich.
    »Ja, stimmt«, sage ich. »Aber jetzt noch nicht. Ich möchte mich so lange wie möglich um ihn kümmern.«
    Pari putzt sich lächelnd die Nase. »Das kann ich verstehen«, sagt sie.
    Ich bezweifele, dass sie versteht, denn ich verschweige ihr meine eigentlichen Gründe. Ich wage ja kaum, sie mir selbst einzugestehen. Vor allem meine Angst davor, frei zu sein, obwohl genau das mein sehnlichster Wunsch ist. Was soll aus mir werden, was soll ich mit mir anfangen, wenn Baba fort ist? Ich habe mein ganzes Leben hinter einer durchsichtigen, undurchlässigen Barriere verbracht wie ein Fisch in einem Aquarium. Ich konnte die schillernde Welt auf der anderen Seite sehen und mir ausmalen, wie es wäre, dort zu leben. Aber ich wurde stets von den strengen und engen Grenzen jenes Lebens geprägt, das Baba mir zugedacht hatte. Anfangs, als ich noch klein war, hat er das bewusst getan, und nun, da er täglich dementer wird, geschieht es unbewusst. Ich habe mich wohl an die Glaswand gewöhnt, und ich habe schreckliche Angst, dass ich, wenn sie birst, wenn ich allein bin, in das große Unbekannte gespült und wie ein Fisch auf dem Trockenen zappeln werde.
    Die Wahrheit, die ich mir selten eingestehe, lautet, dass ich Babas Gewicht auf meinen Schultern immer gebraucht habe.
    Hätte ich meinen
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