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Traumsammler: Roman (German Edition)

Traumsammler: Roman (German Edition)

Titel: Traumsammler: Roman (German Edition)
Autoren: Khaled Hosseini
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mit Brille, der auf einer umgedrehten Apfelkiste saß und auf der Gitarre Bohemian Rhapsody spielte. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie während ihres Besuchs in den USA so redselig war. Ihr Redefluss kommt mir vor wie eine Hinhaltetaktik, mit der sie umkreist, was sie in Wahrheit tun will – was wir zusammen tun werden –, und ihre vielen Worte gleichen einer Brücke.
    »Aber du wirst bald eine richtige Brücke sehen«, sagt sie. »Sobald alle da sind. Dann gehen wir gemeinsam zur Pont du Gard. Kennst du sie? Nein? O là là. C’est vraiment merveilleux . Sie wurde im ersten Jahrhundert von den Römern als Aquädukt zwischen Eure und Nîmes erbaut. Eine Strecke von fünfzig Kilometern! Ein Meisterwerk der Ingenieurskunst, Pari.«
    Ich bin seit vier Tagen in Frankreich, in Avignon seit zwei. Pari und ich sind im kalten, grauen Paris in den TGV gestiegen, und als wir ausstiegen, war der Himmel wolkenlos, ein warmer Wind wehte, und in jedem Baum zirpten Zikaden. Am Bahnhof musste ich mein Gepäck in größter Hast aus dem Zug hieven und sprang in letzter Sekunde, während die Türen hinter mir zuglitten, auf den Bahnsteig. Ich muss Baba unbedingt erzählen, dass ich fast in Marseille gelandet wäre.
    Wie geht es ihm? , fragte Pari, als wir mit dem Taxi vom Flughafen zu ihrer Pariser Wohnung fuhren.
    Er versinkt immer tiefer im Vergessen , antwortete ich.
    Baba lebt jetzt im Pflegeheim. Als ich das Heim zum ersten Mal besuchte, geführt von der Leiterin, Penny, einer großen, schmalen Frau mit tiefroten Locken, dachte ich, dass es gar nicht so übel ist.
    Und dann sprach ich es aus. Ist gar nicht so übel.
    Alles war sauber, die Fenster boten einen Blick auf den Garten, in dem sich alle laut Penny jeden Mittwoch um 16:30 zum Tee trafen. Die Lobby duftete schwach nach Zimt und Pinie. Die Angestellten, die ich inzwischen fast alle mit Vornamen kenne, wirkten höflich, geduldig, kompetent. Ich hatte mir Greisinnen mit ausdruckslosen Gesichtern und Haaren auf dem Kinn vorgestellt, die sabbernd und brabbelnd vor dem Fernseher hockten. Aber die meisten Heimbewohner wirkten gar nicht so alt. Und nur ganz wenige saßen im Rollstuhl.
    Ich habe wohl Schlimmeres erwartet , sagte ich.
    Tatsächlich? , sagte Penny und lachte freundlich und souverän.
    Entschuldigung. Ich wollte Sie nicht beleidigen.
    Halb so wild. Wir wissen sehr genau, welche Vorstellung die meisten Menschen von einem solchen Heim haben. Natürlich , fügte sie über die Schulter vorsichtshalber hinzu, ist dies der Bereich des betreuten Wohnens. Nach allem, was Sie mir über Ihren Vater erzählt haben, weiß ich nicht, ob dies der richtige Ort für ihn ist. Ich denke, dass die Pflegeabteilung für Alzheimer-Patienten besser für ihn wäre. Da sind wir schon.
    Sie öffnete die Tür mit einer Karte. Diese Abteilung duftete nicht nach Zimt oder Pinie. In meinem Inneren zog sich alles zusammen, und ich hatte den Impuls, umzudrehen und zu verschwinden, aber Penny nahm mich am Arm. Sie sah mich mitfühlend an, und ich ging mit ihr, musste während der restlichen Führung jedoch gegen heftige Schuldgefühle ankämpfen.
    Ich besuchte Baba am Morgen vor meinem Abflug nach Europa. Ich ging durch die Lobby und den Bereich für betreutes Wohnen und winkte der aus Guatemala stammenden Carmen, die die Anrufe entgegennimmt. Ich ging am Gesellschaftsraum vorbei, in dem Senioren einem Streichquarett mit elegant gekleideten Highschool-Schülern lauschten, dann am Mehrzweckraum mit den Computern, Bücherregalen und Dominospielen, an dem Schwarzen Brett mit den vielen Hinweisen und Tipps. Wussten Sie, dass Soja Ihren Cholesterinspiegel senken kann? Versäumen Sie nicht die Puzzle- und Spielestunde, Dienstag um 11 Uhr!
    Ich öffnete die Tür zur Alzheimer-Abteilung. In diesem Bereich gibt es weder Tee im Garten noch Bingo. Hier beginnt der Morgen nicht mit Tai-Chi. Ich ging in Babas Zimmer, aber er war nicht dort. Sein Bett war gemacht, sein Fernseher stumm, und auf dem Nachttisch stand ein halbvolles Glas Wasser. Ich war ein wenig erleichtert. Ich finde Baba nicht gern im Krankenhausbett vor, eine Hand unter dem Kopfkissen, die eingefallenen Augen mit dem leeren Blick auf mich gerichtet.
    Ich entdeckte Baba im Aufenthaltsraum. Er saß zusammengesunken im Rollstuhl vor dem auf den Garten hinausgehenden Fenster. Er trug den Flannellpyjama und seine Schiebermütze. Auf seinem Schoß lag das, was Penny als Therapieschürze bezeichnet hatte. Sie hat Bänder, die man aufrollen,
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