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Traumsammler: Roman (German Edition)

Traumsammler: Roman (German Edition)

Titel: Traumsammler: Roman (German Edition)
Autoren: Khaled Hosseini
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des Baumes, von dem sie stammen, miteinander verbunden sind.«
    »Ich habe es ganz anders empfunden«, sagt Pari. »Du sagst, dass du eine Anwesenheit spüren konntest, aber ich habe nur eine Abwesenheit wahrgenommen. Einen vagen, scheinbar grundlosen Schmerz. Wie eine Patientin, die zwar weiß, dass etwas weh tut, dem Arzt aber nicht die genaue Stelle nennen kann.« Sie greift nach meiner Hand, und wir schweigen eine Weile.
    Baba bewegt sich stöhnend im Sessel.
    »Es tut mir so leid«, sage ich.
    »Was tut dir leid?«
    »Dass ihr einander erst so spät wiedergefunden habt.«
    »Aber wir haben einander gefunden, non ?«, sagt sie tief bewegt. »So ist er jetzt. Das ist nicht zu ändern. Und das ist in Ordnung so. Ich bin glücklich. Ich habe einen verlorenen Teil meines Selbst wiedergefunden.« Sie drückt meine Hand. »Und ich habe dich gefunden, Pari.«
    Ihre Worte wecken die Sehnsüchte meiner Kindheit. Ich weiß noch, dass ich ihren Namen – unseren Namen – geflüstert habe, wenn ich einsam war, und mit angehaltenem Atem auf ein Echo wartete, genau wusste, dass ich es eines Tages hören würde. Und als sie jetzt, hier in diesem Wohnzimmer, meinen Namen ausspricht, habe ich das Gefühl, als würden sich all die Jahre, die wir voneinander getrennt waren, rasant zusammenfalten, als würde die Zeit auf die Größe eines Fotos oder einer Postkarte zusammenschrumpfen und das schönste Relikt meiner Kindheit an meine Seite befördert, damit es meine Hand ergreifen, meinen Namen aussprechen kann. Unseren Namen. Ich spüre eine leise, innere Bewegung, merke, dass sich irgendetwas schließt. Eine vor langer Zeit geschlagene Wunde verheilt. Und ich spüre einen Ruck in der Brust, das gedämpfte Pochen eines zweiten Herzens, das direkt neben meinem zu schlagen beginnt.
    Baba stemmt sich im Sessel auf die Ellbogen. Er reibt sich die Augen, schaut uns an. »Was heckt ihr Mädchen da aus?«
    Er grinst.
    * * *
    Noch ein Kinderlied. Über die Brücke in Avignon.
    Pari summt es mir vor.
    Sur le pont d’Avignon
    L’on y danse, l’on y danse
    Sur le pont d’Avignon
    L’on y danse tout en rond.
    »Maman hat mir das beigebracht, als ich klein war«, sagt sie und zieht den Knoten ihres Schals straff, weil ein kalter Wind aufkommt. Es ist kühl, doch der Himmel ist blau, und die Sonne hat Kraft. Sie fällt auf die metallisch graue, breite Rhône und bricht sich auf dem Wasser in kleine, glitzernde Tupfen. »Jedes französische Kind kennt dieses Lied.«
    Wir sitzen auf einer hölzernen Parkbank mit Blick auf das Wasser. Während sie die Verse für mich übersetzt, bestaune ich die Stadt am anderen Ufer. Nachdem ich vor kurzem meine eigene Geschichte entdeckt habe, erfüllt es mich mit Ehrfurcht, an einem so geschichtsträchtigen Ort zu sein. Und hier ist die Geschichte wundersamerweise vollständig erhalten und dokumentiert. Alles an dieser Stadt ist wundersam. Ich staune über die klare Luft, über den Wind, der das Wasser auf die steinigen Ufer klatschen lässt, über das satte, kräftige Licht, das aus jeder Richtung zu kommen scheint. Ich kann von der Parkbank aus die Mauer des alten Stadtkerns mit dem Gewirr schmaler, gewundener Gassen sehen, den Westturm der Kathedrale von Avignon mit der vergoldeten Statue der Jungfrau Maria oben darauf.
    Pari erzählt von dem jungen Schäfer, der im zwölften Jahrhundert behauptet hat, von Engeln angewiesen worden zu sein, eine Brücke über diesen Fluss zu bauen, und der diese Behauptung untermauerte, indem er einen riesigen Felsklotz anhob und ins Wasser warf. Sie erzählt von den Schiffern auf der Rhône, die auf die Brücke stiegen, um zum heiligen Nikolaus, ihrem Schutzpatron, zu beten, von den vielen Überflutungen im Laufe der Jahrhunderte, die die Stützpfeiler der Brücke zum Einsturz brachten. Sie erzählt dies mit der gleichen nervösen Energie wie am Vormittag, als sie mich durch den gotischen Papstpalast geführt hat. Sie setzte die Kopfhörer des Audioguides ab, um mich auf ein Fresko hinzuweisen, stupste mich an, um meine Aufmerksamkeit auf eine interessante Schnitzarbeit, ein Bleiglasfenster oder das Kreuzrippengewölbe zu lenken.
    Sie sprach draußen vor dem Palast fast ohne Punkt und Komma, zählte in einem Rutsch die Namen von Heiligen, Päpsten und Kardinälen auf, während wir zwischen den vielen Tauben über den Platz gingen. Überall Touristen und afrikanische Händler mit bunten Gewändern, die Armbänder und Uhrenplagiate verkauften, dazu ein junger Musiker
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