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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika
Autoren: Joachim Meyerhoff
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    1. Kapitel
    Mit achtzehn ging ich für ein Jahr nach Amerika. Noch heute erzähle ich oft, dass es ein Basketballstipendium war, aber das stimmt nicht. Meine Großeltern haben den Austausch bezahlt.
    Von der norddeutschen Kleinstadt, in der ich nicht geboren, aber aufgewachsen bin, braucht der Eilzug nach Hamburg keine zwei Stunden. In diesen Zug stieg ich ein und suchte mir einen Sitzplatz.
    Geboren bin ich seltsamerweise in Homburg im Saarland, von wo aus wir nach nur drei Jahren nach Norddeutschland umgezogen waren. Da ich leider nicht zu den genialischen Menschen gehöre, deren Erinnerung mit pränatalen Fruchtwassererlebnissen oder Mozartschallwellen einsetzt, oder zu denen, die gestochen scharfe Bilder ihrer frühesten Lebensjahre in wohlbehüteten Gehirnkammern aufbewahren, zum Beispiel, wie sie mit anderthalb gegen eine geschlossene Glasschiebetür geknallt sind, habe ich an Homburg im Saarland nicht die geringste Erinnerung. Ganz verschwommen sehe ich hin und wieder eine Elster, eine saarländische Elster, die auf der Schiebestange meines Kinderwagens sitzt und mich anstarrt.
    Das mit der Glasschiebetür ist mir selbst widerfahren. Ich konnte gerade laufen. Mein ältester Bruder setzte mich in einen Sessel und ging auf die Terrasse hinaus. Erst wenn er meinen Namen rief, durfte ich vom durchgesessenen Blumenmustersessel hinunterkrabbeln und auf meinen noch wackeligen Beinen durch das Zimmer hinaus ins Freie, in seine Arme rennen. Über die Bodenschienen der Schiebetür hinweg hätte ich jedes Mal einen niedlichen Hopser gemacht. Angeblich konnte ich von diesem Im-Sessel-Sitzen und Auf-Kommando-ins-Freie-Laufen im Gegensatz zu meinem Bruder nicht genug bekommen. Schon in seinen Armen, den Bruderarmen, hätte ich »Noch mal! Noch mal!« gerufen. Nach dem zwanzigsten oder fünfundzwanzigsten »Noch mal! Noch mal!« setzte mich mein Bruder wieder in den Sessel und zog die Schiebetür zu, um herauszufinden, ob ich schon wüsste, dass man nicht durch Glas gehen kann. Ich wusste es nicht und donnerte mit solcher Wucht gegen die Scheibe, dass meiner Mutter vor Schreck das Buch bis an die Zimmerdecke flog und mein Vater in der Küche dachte, jemand hätte mit voll Karacho einen Fußball gegen die Schiebetür geschossen. Wie eine unsichtbare Faust hatte mich die Scheibe auf dem Weg in die weit geöffneten Arme meines Bruders niedergestreckt. Mein Vater kam und wollte den Übeltäter schimpfen, fand aber nur mich. Vor der Tür liegend, benommen, wie eine gegen das Fenster geknallte Amsel. Mein Bruder wurde ermahnt, keine Experimente mit mir zu machen, und in sein Zimmer geschickt. Auf der Scheibe waren in geringem Abstand ein Speichel- und ein Fettfleck. Ich soll nach dieser Kollision mit dem Nichts mehrere Tage lang beim Umhergehen verängstigt mit vorgestreckten Händen die Luft abgetastet und nach unsichtbaren Mauern gesucht haben. Das, so mein Vater, wäre ihm damals sehr zu Herzen gegangen. Ich hätte mit meiner riesigen, grün-blauen Beule auf der Stirn, den weitaufgerissenen Augen und den suchenden Fingerchen wie ein kleinwüchsiges, fremdartiges Wesen von sehr, sehr weit her ausgesehen. Jahre später sagte mein Vater zu mir: »Es sah aus, als würdest du auf einer unsichtbaren Schreibmaschine geheime Botschaften in die Luft tippen.«
    An etwas anderes erinnere ich mich selbst noch ganz genau. Ich rollte mit dem Fahrrad eine Straße entlang und sank plötzlich ein. Mitten in der Stadt. Der Asphalt gab nach und mein Vorderrad versank knapp einen halben Meter tief. Als sich die Straße auftat, wusste ich noch nicht, dass es nur einen halben Meter tief hinabgehen würde. Es fühlte sich so an, als ob ich gleich kopfüber ins Erdinnere fallen würde. Gut, dass mir das erst später, mit ungefähr vierzehn, und nicht schon damals in meiner Geburtsstadt, diesem Homburg im Saarland, mit zwei Jahren auf einem Dreirad widerfahren ist. Kein Vertrauen in die Festigkeit der Erdoberfläche und brutale Schläge aus dem Nichts hätten vielleicht doch zu nachhaltigeren Verunsicherungen führen können.
    Manche frühen Erinnerungen sind auch deshalb so stark, weil sie wie Wunder daherkommen, unerklärlich und hinterrücks über einen hereinbrechen:
    Ich bin ungefähr zehn, knie auf dem Gehsteig und male mit Straßenkreide eine Kuh. Bis heute kann ich keine Kuh malen, kein einziges Tier kann ich malen. Ich kann es wirklich nicht. Ich würde es so gerne können. Mir eine Kuh vorstellen, die Kreide zücken und malen. Mit
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