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Traumsammler: Roman (German Edition)

Traumsammler: Roman (German Edition)

Titel: Traumsammler: Roman (German Edition)
Autoren: Khaled Hosseini
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verderben. Über weite Strecken zogen die drei dahin, und sie sahen niemanden und nichts außer kupferroten Schluchten und hohen Sandsteinklippen. Die weite, offene Wüste dehnte sich vor ihnen aus, als wäre sie nur für sie allein erschaffen worden. Die Luft war unbewegt und glühend heiß, der Himmel blau und weit. Felsen glänzten auf dem rissigen Wüstenboden, und Abdullah vernahm nur seinen eigenen Atem und das rhythmische Knarren der Räder des roten Karrens, den sein Vater beharrlich Richtung Norden zog.
    Bald darauf legten sie im Schatten eines Felsbrockens eine Rast ein. Ihr Vater ließ die Deichsel des Karrens auf den Boden sinken. Er verzog stöhnend das Gesicht, als er den Rücken durchdrückte, und blickte in die Sonne.
    »Wie lange noch bis Kabul?«, fragte Abdullah.
    Sein Vater sah auf die Kinder hinab. Er hieß Saboor. Er hatte scharf geschnittene, kantige und knochige Gesichtszüge, dunkle Haut, eine Nase, krumm wie der Schnabel eines Wüstenfalken, und tief im Schädel liegende Augen. Er war schmal, doch die lebenslange Arbeit hatte dafür gesorgt, dass seine Muskeln die Arme so fest umschlangen wie das Geflecht die Lehne eines Korbstuhls. »Morgen Nachmittag sind wir dort«, sagte er und setzte den rindsledernen Wasserbeutel an seine Lippen. »Vorausgesetzt, wir kommen gut voran.« Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab, als er einen tiefen Schluck trank.
    »Warum hat Onkel Nabi uns nicht gefahren?«, fragte Abdullah. »Er hat doch ein Auto.«
    Sein Vater drehte sich zu ihm um.
    »Dann hätten wir nicht den ganzen Weg zu Fuß gehen müssen.«
    Sein Vater schwieg. Er setzte die speckige Kappe ab und wischte sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß von der Stirn.
    Da streckte Pari auf dem Karren einen Finger aus. »Schau mal, Abollah!«, rief sie aufgeregt. »Noch eine.«
    Sie deutete auf den Schatten, den der Felsbrocken warf, und Abdullah erblickte dort auf dem Boden eine lange Feder, grau wie verbrannte Holzkohle. Er ging hin und hob sie am Kiel auf. Er pustete den Staub ab und drehte sie hin und her. Von einem Falken, dachte er. Vielleicht auch von einer Wüstenlerche oder einer Taube. Er hatte heute schon mehrere solcher Federn gesehen. Nein, es war eine Falkenfeder. Er pustete noch einmal darauf und überreichte sie Pari, die sie glücklich entgegennahm.
    Zu Hause in Shadbagh bewahrte Pari unter ihrem Kopfkissen eine alte Teedose aus Blech auf, die Abdullah ihr geschenkt hatte. Der Verschluss war rostig, und der Deckel zeigte einen bärtigen Inder mit Turban und langem, rotem Gewand, der mit beiden Händen eine dampfende Tasse Tee hielt. In dieser Dose bewahrte Pari alle Federn auf, die sie gesammelt hatte. Sie waren ihr kostbarster Besitz. Dunkelgrüne und weinrote Hahnenfedern; die weiße Schwanzfeder einer Taube; die Feder eines Spatzen, graubraun und dunkel gefleckt; und auch jene, die Pari mit dem größten Stolz erfüllte, eine grüne, glänzende Pfauenfeder mit einem schönen, großen Auge oben auf der Fahne.
    Abdullah hatte sie ihr vor zwei Monaten geschenkt. Er hatte erfahren, dass die Familie eines Jungen aus einem anderen Dorf einen Pfau besaß. Und eines Tages, als sein Vater in einer Stadt südlich von Shadbagh Gräben aushob, ging Abdullah zu dem Dorf, machte den Jungen ausfindig und bat ihn um eine Feder. Sie begannen zu feilschen, und am Ende tauschte Abdullah seine Schuhe gegen die Feder ein. Als er endlich wieder in Shadbagh war, die Pfauenfeder unter dem Hemd im Hosenbund, waren seine Fersen aufgerissen und hinterließen blutige Spuren auf dem Boden. Dornen und Splitter hatten sich in seine Fußsohlen gebohrt, und bei jedem Schritt durchfuhr ein stechender Schmerz seine Füße.
    Bei seiner Heimkehr saß Parwana, seine Stiefmutter, draußen vor dem Tandoor und backte das tägliche Naan-Brot. Er duckte sich hinter die riesige Eiche, die in der Nähe der Hütte stand. Während er darauf wartete, dass sie fertig wurde, sah er ihr heimlich bei der Arbeit zu, dieser Frau mit den kräftigen Schultern, den langen Armen, rauen Händen und Wurstfingern. Ihr rundes, aufgedunsenes Gesicht besaß rein gar nichts von der Anmut des Schmetterlings, nach dem sie benannt worden war.
    Abdullah hätte gern Liebe für sie empfunden. Wie für seine leibliche Mutter, die vor dreieinhalb Jahren bei Paris Geburt verblutet war. Abdullah war damals sieben gewesen. Seine Mutter, deren Gesicht er kaum noch in Erinnerung hatte, seine Mutter, die sein Gesicht mit beiden Händen umfasst und gegen ihre Brust
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