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Traumsammler: Roman (German Edition)

Traumsammler: Roman (German Edition)

Titel: Traumsammler: Roman (German Edition)
Autoren: Khaled Hosseini
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Ayub ein Fläschchen mit einer dunklen Flüssigkeit. Trinke auf dem Heimweg davon. Und nun lebe wohl.
    Baba Ayub nahm das Fläschchen und ging ohne ein weiteres Wort davon.
    Unterdessen saß seine Frau am Rand des Ackers der Familie und hielt Ausschau nach ihrem Mann, so wie Baba Ayub einst dort in der Hoffnung gesessen hatte, Qais zu erblicken. Mit jedem Tag, der verstrich, schwand ihre Hoffnung ein wenig mehr. Die Leute im Dorf sprachen schon in der Vergangenheitsform von Baba Ayub. Doch eines Tages, sie saß wieder auf der nackten Erde und sprach ein leises Gebet, sah sie eine ausgemergelte Gestalt, die vom Gebirge auf Maidan Sabz zukam. Sie hielt den abgemagerten, in Fetzen gehenden Mann mit den hohlen Augen und eingesunkenen Schläfen zunächst für einen Derwisch, und sie erkannte ihren Mann erst aus der Nähe. Ihr Herz tat vor Freude einen Satz, und sie schrie erleichtert auf.
    Nachdem Baba Ayub sich gewaschen, gegessen und etwas getrunken hatte, ruhte er sich zu Hause aus, umringt von den Dorfbewohnern, die ihm viele Fragen stellten.
    Wo bist du gewesen, Baba Ayub?
    Was hast du gesehen?
    Was ist dir widerfahren?
    Baba Ayub wusste keine Antworten darauf, denn er konnte sich an nichts mehr erinnern. Er hatte alles vergessen: Seine lange Wanderung, die Besteigung des Berges mit der Burg, das Gespräch mit dem Dämon, den großen Palast und auch die weite Halle mit den Vorhängen. Er schien aus einem Traum erwacht zu sein, der ihm längst entglitten war. Er erinnerte sich weder an den verborgenen Garten und die Kinder noch an seinen Sohn Qais, der mit seinen Freunden unter den Bäumen gespielt hatte. Ja, die Erwähnung von Qais löste bei Baba Ayub nur ein verwirrtes Blinzeln aus.
    Begreifst du, dass es ein Akt der Gnade war, Abdullah? Die Gabe des Trankes, der die Erinnerung auslöschte? Damit belohnte der Dämon Baba Ayub, weil dieser auch die zweite Prüfung bestanden hatte.
    In jenem Frühling riss der Himmel über Maidan Sabz endlich auf. Und es war nicht der schwache Nieselregen der letzten Jahre, nein, es goss in Strömen. Der Regen fiel in Sturzbächen, zur großen Freude der Dorfbewohner. Der Regen trommelte den ganzen Tag auf die Dächer von Maidan Sabz und übertönte alle anderen Geräusche. Dicke, schwere Regentropfen fielen von den Blättern. Die Brunnen füllten sich, und der Pegel des Flusses stieg an. Die Hügel im Osten wurden grün. Wildblumen erblühten, und zum ersten Mal seit vielen Jahren spielten die Kinder im Gras, und die Kühe fraßen sich daran satt. Alle jubelten.
    Als der Regen nachließ, hatten die Dorfbewohner alle Hände voll zu tun. Mehrere Lehmziegelmauern hatten sich aufgelöst, einige Dächer waren eingesackt und ganze Äcker zu Sümpfen geworden. Aber nach dem Elend der letzten zehn Jahre hatten die Menschen in Maidan Sabz keinen Grund zur Klage. Man stellte Mauern und Dächer wieder her und reinigte die Bewässerungskanäle. In jenem Herbst erntete Baba Ayub so viele Pistazien wie noch nie in seinem Leben, und während der folgenden zwei Jahre wurden seine Feldfrüchte noch größer und üppiger. Wenn Baba Ayub seine Waren in den großen Städten feilbot, saß er voller Stolz hinter seinen zu Pyramiden aufgetürmten Pistazien und strahlte wie der glücklichste Mensch auf Erden. Maidan Sabz wurde nie wieder von einer Dürre heimgesucht.
    Viel mehr gibt es nicht zu erzählen, Abdullah. Du könntest natürlich fragen, ob jemals ein junger, hübscher Mann auf seinem Weg zu großen Abenteuern durch das Dorf ritt. Legte er vielleicht eine Rast ein, um etwas zu trinken, setzte er sich, um mit den Dorfbewohnern das Brot zu teilen, womöglich sogar mit Baba Ayub? Das weiß ich nicht, mein Junge. Aber ich weiß, dass Baba Ayub ein sehr hohes Alter erreichte. Ich weiß, dass er, wie von ihm erhofft, die Hochzeiten all seiner Kinder miterlebte, und ich weiß, dass seine Kinder ihm viele Enkel schenkten, und jedes Enkelkind bereitete Baba Ayub große Freude.
    Und ich weiß, dass Baba Ayub in manchen Nächten ohne ersichtlichen Grund nicht schlafen konnte. Er war zu jenem Zeitpunkt bereits ein sehr alter Mann, aber mit Hilfe eines Stockes konnte er immer noch gehen. Also schlüpfte er in den schlaflosen Nächten aus dem Bett, ohne seine Frau zu wecken, nahm seinen Stock und verließ das Haus. Er lief durch die Dunkelheit, ertastete den Weg und spürte die nächtliche Brise im Gesicht. Am Rand seines Ackers befand sich ein flacher Stein, auf dem er sich niederließ. Dort saß er dann eine
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