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Kauft Leute

Kauft Leute

Titel: Kauft Leute
Autoren: Jan Korssdorff
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    Z WISCHEN DEM WEITLÄUFIGEN G ELÄNDE eines Golfplatzes und der Ausstellungs-Welt eines Fertighaus-Erzeugers im Süden von Wien befand sich ein etwa zwei Hektar großer, von hohen Holzverschlägen umzäunter Grund, auf dem seit einem Jahr unermüdlich gebaut wurde. Lange wussten nur die direkt in den Planungs- und Bauprozess eingebundenen Personen, was hier entstehen sollte, und verschiedene Theorien machten unter den Uneingeweihten die Runde. So tippten viele auf ein exklusives Designermarken-Outlet. Andere glaubten zu wissen, dass ein Baumarkt aufmachen würde, möglicherweise der größte des Landes. Als hartnäckig erwies sich auch der Irrglaube, auf dem Gelände solle ein Vergnügungspark entstehen. Die Kinder konnten schon die Schreie von der Achterbahn hören und die Eltern die Steaks im mexikanischen Erlebnisrestaurant schmecken. All diese Hypothesen stellten sich als falsch heraus, wenn auch jede zumindest ein bisschen Wahrheit enthielt. Als schließlich das sechs mal drei Meter große Schild mit der Aufschrift »HIER ERÖFFNET IN KÜRZE DER GRÖSSTE HÜMANIAMARKT EUROPAS!« neben dem Haupttor des Baugeländes aufgestellt wurde, herrschte sogleich allergrößte Aufregung. All die Polemik, die Diskussionen, die Ablehnung und die enorme Spannung, die schon mit der Eröffnung der anderen großen Filialen in Mitteleuropa einhergegangen waren, traten auch hier auf – und stärker noch. Aber: Selbst jene Wiener, die mit dem enormen Erfolg von HÜMANIA nicht einverstanden waren, die ideologische Vorbehalte hatten, mussten anerkennen, dass die Entscheidung, nach Filialen in Dresden, München, Amsterdam und Turin das Flaggschiff von HÜMANIA an der Donau entstehen zu lassen, ein fantastisches Kompliment für den Standort Wien war. Es würde die regionale Wirtschaft stärken, mediales Echo generieren, Touristen anziehen. Und dies waren Argumente, die schwerer wogen als jeder moralische Einwand.
    Zur gleichen Zeit, als alle Welt erfuhr, welche Art von Attraktion die Stadt und ihre Bewohner erwartete, wurden in den größten Tageszeitungen des Landes Job-Inserate geschaltet, in denen vom Kundenberater über Verkaufsraumgestalter bis zum Buchhalter eine komplette Firmenbelegschaft gesucht wurde. Eines der Inserate war die Ausschreibung der Stelle »Texter und Produktgestalter«, und genau dieses fiel Carolin Novara ins Auge, als sie die Online-Jobbörse einer Wiener Tageszeitung durchforstete. Sie hatte vor fast einem Jahr einen bestens bezahlten Job bei einer großen Werbeagentur in Wien hingeschmissen, hatte dann für einige Monate den Großteil ihrer Wachzeit in einem Multiplayer-Online-Game verbracht, bis zur völligen Isolierung und finanziellen Erschöpfung, um sich dann in einem Moment der Selbsterkenntnis in ein Entzugsprogramm zu stecken, bei dem sie drei Monate lang ohne Zugang zu Handy, Fernsehen oder Internet einen Bauernhof mitbewirtschaftet, Kühe gemolken, Kartoffeln gezogen und Marmelade eingekocht hatte. Tagsüber hatte sie Schweinemist geschaufelt und Erde aus den Reifen eines Traktors gekratzt, in ihren Träumen aber war sie immer noch die zähe Raumtransporterpilotin mit dem langen roten Zopf gewesen, die auf dem Dschungelplaneten
Khawyndia
Handel mit Iridium betrieb. Man bekam diesen Irrsinn einfach nicht mehr aus dem Kopf.
    Caro schickte ihren Lebenslauf, ein paar Arbeitsproben und ein kreatives Bewerbungsschreiben, an dem sie feilte, als wäre es die Magna Charta, an die Human-Resources-Stelle von HÜMANIA und wartete ab. Es war die zehnte Bewerbung, die sie in den letzten Wochen verschickt hatte, und niemand hatte sich bei ihr gemeldet. Diesmal war es anders: Eineinhalb Wochen später erhielt sie eine Einladung zum Vorstellungsgespräch. Am selben Tag ging auch die Online-Auktion zu Ende, bei der Caro die Zugangsdaten zu ihrem Profil bei dem Webgame, und damit auch ihren Avatar, ihre unfassbar hohen Kommunikationspunkte und ihr virtuelles Vermögen von 6 Millionen Dollar in Form von reinstem Iridium versteigerte. Die Auktion erzielte über 400 Euro. Die ganze Angelegenheit schien nun ausgestanden, und Caro konnte sich daranmachen, das
real life
zurückzuerobern. Innerlich aufgewühlt von diesen Entwicklungen, hatte sie das Bedürfnis, jemandem davon zu erzählen. Da sie ihre früheren Freunde in Zeiten erhöhten Handelsaufkommens auf
Khawyndia
ziemlich schmählich ignoriert hatte und später auf der Farm sowieso völlig aus der Welt gewesen war, traute sie sich nicht, jemanden anzurufen, der
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